Schon lange wünschte sich Hildes Enkelin ein Meerschweinchen. "Die sind ja sooo süß, Oma", schwärmte Klara oft. "Ach, ich hätte schrecklich gern eins. Ich würde es Fixi nennen. Weil Meerschweinchen so fix sind." Inzwischen war sie acht Jahre - alt genug, um Verantwortung zu übernehmen. Mit Klaras Mutter war alles abgesprochen, und sechs Wochen vor Weihnachten kaufte Hilde ein Meerschweinchen samt Käfig und Zubehör, früh genug, um das Tier handzahm zu machen, bevor Klara es bekam.
Wenn Hilde vor dem Käfig stand, konnte sie ihre Enkelin verstehen. Fixi war wirklich niedlich. Sie hatte dunkle Augen, so groß wie Korinthen. Seidig glänzten die langen Haare ihres weißen Fells mit den dunkelbraunen Flecken. Weich fühlte Fixi sich an. Warm. "Eine Handvoll Leben", dachte Hilde immer, wenn sie das Meerschweinchen herausnahm. Am Anfang war es noch scheu, versuchte zu flüchten, sobald sie den Käfig öffnete. Ein paar Mal hatte es sie sogar gebissen.
Aber dann gewöhnten sie sich aneinander. Wenn Hilde ins Zimmer trat, schoss das Meerschweinchen aus seinem Holzhäuschen, stellte sich am Gitter auf die Hinterbeine, zirpte, trillerte, gluckste oder stieß durchdringend hohe Pfeiftöne aus. Das hieß: "Ich habe Appetit." Nicht immer verstand Hilde die Meerschweinchensprache. Aber ein anderer Laut war unmissverständlich: Wenn Fixi es sich auf ihrem Schoß bequem machte und sich hinter den Öhrchen kraulen ließ, dann gurrte sie, und das konnte nichts anderes bedeuten als: "Ich fühle mich sauwohl. Mach weiter!"
Weihnachten rückte näher und Hilde konnte es kaum erwarten, Klaras Freude über ihr Geschenk zu sehen. Doch sie wusste auch, dass es ihr schwerfallen würde, das Meerschweinchen abzugeben.
Um den vierten Advent herum veränderte sich Fixis Verhalten. Sie saß still in ihrem Häuschen, kam nur noch kurz zum Fressen heraus. Von ihrer Munterkeit war nichts übrig geblieben. Stattdessen bewegte sie sich langsam und schwerfällig. "Als ob sie auch traurig wäre, dass wir uns bald trennen müssen", dachte Hilde.
Am 23. Dezember schellte das Telefon. "Es tut mir sehr leid, Mutter", sagte ihre Tochter. "Klara ist stark erkältet und hat Fieber. Wir müssen den Besuch verschieben."
"Aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben", erwiderte Hilde. Zwar war sie enttäuscht, doch nicht so sehr, wie sie erwartet hätte. "Ich darf dich ein paar Tage länger behalten", sagte sie zu Fixi. Im Käfig rührte sich nichts. Hilde bückte sich und versuchte, einen Blick durch das Fenster des Holzhäuschens zu erhaschen. Das Meerschweinchen saß bewegungslos auf einem Heuteppich. Hilde holte ein Sträußchen Petersilie. "Fixi", lockte sie, "sieh mal, was ich hier habe." Sie schob die Petersilie zwischen den Gitterstäben hindurch, doch das Meerschweinchen machte keine Anstalten, sich den Leckerbissen zu holen.
Jetzt begann Hilde, sich ernsthaft Sorgen zu machen. Sie sah auf die Uhr. Zu spät, um noch zum Tierarzt zu fahren. Schweren Herzens machte sie sich daran, den Weihnachtsbaum zu schmücken. Doch zwischendurch lief sie immer wieder zum Käfig, um nach dem kranken Meerschweinchen zu sehen. Besorgt ging sie an diesem Abend zu Bett.
Am nächsten Morgen blieb ihr fast das Herz stehen vor Schreck. Fixi saß immer noch im Häuschen. In der Spreu entdeckte Hilde ein paar rote Flecken. War das Blut? Mit fliegenden Fingern öffnete sie den Käfig und hob das Häuschen hoch.
Ein Piepsen und Tschilpen wie aus einem Vogelnest klang ihr entgegen. Neben Fixi und unter ihr wuselte es. Hilde musste sich setzen. Ungläubig starrte sie auf die vier Miniaturmeerschweinchen. Ihre Köpfe schienen etwas zu groß für die kleinen Körper, die Beinchen etwas zu lang, aber sie hatten wache Korinthenaugen und offenbar auch schon ziemlichen Durst. "Wo kommt ihr denn her?", stammelte sie. Fixi sah zu ihr hoch, als wollte sie sagen: "Dumme Frage. Woher wohl?"
Hilde lachte zittrig und stellte das Holzhäuschen wieder über das Nest. Schon streckte das erste Tierchen die Nase zur Tür heraus und kurz darauf marschierten alle vier quiekend hinter der Mutter her durch den ganzen Käfig.
Hilde konnte sich von dem Anblick nicht losreißen und vergaß völlig, ihr Weihnachtsessen vorzubereiten. Die Kleinen hatten überhaupt keine Angst. Sie nahm eins nach dem anderen heraus, und die Meerschweinchenbabys kuschelten sich in ihre Hände und hielten ein Nickerchen. "Jedes eine halbe Handvoll Leben", dachte sie.
Ihr Entschluss stand schnell fest. "Du", sagte sie zu einem Schweinchen, "heißt Kaspar. Und dich", sagte sie zu einem anderen, das einen weißen Pelzkragen hatte, "nenne ich Melchior. Du mit den schwarzen Füßchen heißt Balthasar. Ihr bleibt bei mir. Eins ihrer Kinder darf Fixi behalten. Seinen Namen soll Klara aussuchen."
Fixi gurrte. Hilde streichelte sie. "Dir auch fröhliche Weihnachten", murmelte sie.
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