Sein Verleger hatte ihm geschrieben. Witzig hatte er geschrieben, doch er hatte es todernst gemeint.
Vermisstenanzeige
Es werden vermisst: Weihnachtsengel, Wichtel, Weihnachtsmänner, das Christkind, der Nikolaus, Weihnachtsliebhaber, Weihnachtshasser, Weihnachtsmuffel, die Rentiere, Weihnachtselfen ...
Seit Monaten hat man nichts mehr von ihnen gehört und niemand weiß, wo sie sich befinden und was mit ihnen passiert ist.
Eberhard Semmelbauer wälzte sich des Nachts auf seinem Lager unruhig hin und her. Die Nachricht seines Verlegers quälte ihn, raubte ihm den Schlaf. Gedanken voller Verzweiflung quollen unter der Wärme seines Federbetts hervor wie böse Geister. Schrieb er keine Weihnachtsgeschichte, so war er weg vom Fenster, wie man heutzutage sagte. Schrieb er aber eine, so war er sich gewiss, seinen Ruf als Schriftsteller für immer eingebüßt zu haben. Er war keiner von den begnadeten Engelsgeschichtenschreibern. Ihm fehlte es an der Kindlichkeit, die manch eine seiner Schriftstellerkolleginnen aufbrachte und von großen leuchtenden Kinderaugen, von klingenden Glöckchen und Rentieren vor dem Schlitten des Weihnachtsmannes schreiben konnte, so als hätte sie die ganze niedliche Gesellschaft persönlich getroffen.
Herr Semmelbauer fand keinen Schlaf mehr und er marterte sich und sein Gehirn, während die alte Uhr in der Diele zweimal schlug. Er dachte an die Weihnachtsfeiern seiner Kindheit und überlegte, ob sich da vielleicht Engel getummelt hatten und Weihnachtsmänner mit Schlitten und Rentieren. Doch nichts dergleichen tauchte in seiner Erinnerung auf.
Er sah lediglich seine überarbeitete Mutter in der Hitze der Küche stehen. Sie hatte eine grüne Schürze mit grauem Wirbelmuster umgebunden, das ihm noch heute wie Engelshaar auf dem Weihnachtsbaum erscheinen wollte, und sie rührte in großen Töpfen und war nicht ansprechbar für die kleinen Fragen und Hoffnungen eines achtjährigen Jungen. Der konnte sich zwar weder Engel noch ein Christkind vorstellen, doch sehr konkret eine elektrische Eisenbahn, die er meinte unbedingt zu brauchen. Und während Klein-Eberhard drängend seine Wünsche vortrug, starrte er auf das grauspiralige Muster der Schürze. Das Gesicht der Mutter, das ihm hätte zeigen können wie sie darüber dachte, hatte sich wie ein Mount Everest mit dichten Wolkenschleiern verhüllt, die aus den Töpfen hervorquollen. Doch das war kein Hindernis für den Jungen. Da er nur zu gut wusste, dass die Mutter nicht in der richtigen Stimmung für seine Wunschvorstellungen war, fragte er eben vorsichtig nur die Schürze:
"Meinst du, das Christkind wird mir die Eisenbahn bringen?"
"Warum sollte es? Warst du denn brav gewesen?", tönte es gedämpft aus den Nebelschwaden über dem Herd.
Der kleine Junge machte ein liebes Engelsgesicht und flüsterte gegen die Schürze hin: "Ich glaub schon." Und dann mit Nachdruck: "Sag schon, bekomme ich eine Eisenbahn?"
So ging es hin und her und eine Weile noch ließ die Mutter die Quengeleien und drängenden Wünsche des Buben über sich ergehen, dann aber rief sie nach seinem Vater und in aufwallendem Unmut forderte sie ihn auf: "Nimm endlich den Bengel und geh mit ihm spazieren. Er geht mir auf die Nerven:"
Da war es heraus, deutlich und unmissverständlich und alle wussten es nun. Er war kein Engel. Das B davor hatte alles verdorben und das dürfte der Anfang seines Zerwürfnisses mit dieser Gattung der geflügelten und unsichtbar umherschwebenden Wesen gewesen sein.
Eberhard Semmelbauer fiel auch an das Krippenspiel in der Dorfschule ein. Seine Schwester stand im weißen Kleidchen da und die goldbroncierten Flügel winkten steif von ihrem Rücken hervor. Sie trug ein für ihr Alter durchaus anspruchsvolles Gedicht vor. Dann sollte sie die vierte Kerze am Adventskranz entzünden. Sie schaffte es nicht, verbrauchte eine ganze Schachtel Streichhölzer. Sie bekam einen hochroten Kopf, weinte dicke glitzernde Engelstränen und die abgebrochenen Streichholzköpfe sammelten sich zu ihren Füßen. Sie war eben kein richtiger Engel mit übernatürlichen Fähigkeiten.
Das war seine zweite Begegnung mit dem Wesen Engel und es hatte sich wieder nicht gelohnt. Auch die Erinnerung daran lohnte kaum, denn die mageren Begebenheiten gaben nichts her für eine Geschichte.
Während die Katze, die sich zu Eberhards Füßen eingenistet hatte, kurz aufstand, sich einmal um die eigene Achse drehte und dann wieder zu einem dicken, graugetigerten Knäuel zusammensank, um mit einem Aufseufzer weiter zu schlafen, starrte der einfallslose Schriftsteller Semmelbauer an die dunkle Decke. Dort sah er nichts als Dunkelheit. Von nirgendwo kam ein Lichtlein her, wenngleich ihn seine Großmutter gelehrt hatte, dies würde geschehen, sollte er einmal nicht mehr weiter wissen. Wenn du denkst, es geht nicht mehr …
"Tja", seufzte er in die Nacht hinein, "Geschichten, die immer mit Ärger oder Tränen, mit Enttäuschung oder Peinlichkeit enden, nie jedoch mit himmlischem Glockenklang und umherschwebenden Engelchen, die mag sicher niemand lesen."
Und da ihm also gar nichts Brauchbares einfallen wollte, stieg er vorsichtig, um die Katze nicht zu stören, aus dem Bett und tappte hinüber ins Wohnzimmer und an den Bücherschrank. Hell schien der Mond durchs Fenster herein und tauchte den Mann und seinen Schlafanzug, dessen Farbe und Musterung auf wunderliche Weise der mütterlichen Weihnachtsschürze von einst ähnelte, in ein silbersanftes Licht.
In seiner quälenden Einfallslosigkeit begab sich Eberhard nun auf die Suche nach einem Buch mit Weihnachtsgeschichten, aus dem er vielleicht die eine oder andere Engelsidee stehlen konnte. Lieber ein Plagiat an den Verleger schicken, dachte er, als zugeben zu müssen, dass er unfähig war, selbst eine Weihnachtsgeschichte zu erfinden.
Es wurde eine lange Nacht und er las viele Geschichtenbücher, die er als großmütterliches Erbe achtlos und ungelesen zwischen Hemingway und Leo Tolstoi in seinen Bücherschrank gequetscht hatte. Er las kitschig süßliche Geschichten mit braven Kindern und er las ernste Geschichten, die von Weihnachten unter Bomben und Gewehrfeuer erzählten. Er las von so vielen Engeln, dass er sich wunderte, noch niemals einem begegnet zu sein. Die Nikoläuse und Weihnachtsmänner überschwemmten ihn geradezu mit ihren Rucksäcken, Ruten und Päckchen fürs brave Kind. Doch alles, was er gelesen hatte, taugte ihm nicht, es als seine Geschichte auszugeben. Nicht die von Dickens und nicht die von Theodor Storm und vieler anderer. Selbst die Weihnachtsgeschichten der begnadeten Engelsschreiberin Patricia Koelle, die erst jüngst erschienen und auf geheimnisvolle Weise in seinen Bücherschrank gelangt waren, schloss er von seinem Vorhaben aus. Trotz seiner mühevollen nächtlichen Lesung verspürte er noch immer nicht den Kuss der Muse auf seinem schlafmüden Haupt.
Bevor er aufgab, um zurück zu seiner Katze ins Bett zu kriechen, zog er noch ein stockfleckiges, notdürftig mit schwarzem Garn zusammengehaltenes Buch aus dem Regal. Es war die Bibel seiner Großmutter. Eine Luther-Bibel aus dem Jahr 1857, wie darin vermerkt war. Wahrscheinlich hatte sie bereits deren Mutter gehört.
Als er das gebrechliche Buch vorsichtig aufschlug, sahen ihm im 1. Buch Mose auf der Geschichte über die Sintflut zwei Fliegen entgegen, plattgedrückt von der Schwere des Jahrtausende alten Textes. Weiter blätterte er und fand im Buch Hiob ein kleines Blatt Papier als Lesezeichen. Auf dem vergilbten Fetzen stand in ordentlicher Sütterlin: 'Die Schnitthölzer und Rebstöcke sollt Ihr haben, wenn Ihr kommt, wir verlassen uns darauf'. Was mochte das mit Hiob zu tun haben? Hatte es einen Weinbauern unter seinen Ahnen gegeben?
Das alte Buch und seine Geheimnisse nahmen ihn gefangen und er fahndete nun nach weiteren Lesezeichen und er fand noch eines im Neuen Testament bei Lukas, wo es das 2. Kapitel markierte. Es war ein leeres Tütchen mit blauem Aufdruck durch einen einfachen Stempel. Darauf stand: '10 Gr. Zwiebeln gelbe Birne'. Einen frommen Gärtner also hatte es auch gegeben, der hier gelesen und dann las auch Eberhard Semmelbauer die Bibelstelle, die für einen seiner Vorfahren wert gewesen war, sie mit einem Samentütchen zu kennzeichnen.
Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot von dem Kaiser Augusto ausgieng, daß alle Welt geschätzt würde.
Und diese Schatzung war die allererste, und geschah zur Zeit, da Cyrenius Landpfleger in Syrien war.
Und jedermann gieng, daß er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt.
Da machte sich auf auch Joseph aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land, zur Stadt David, die da heißt Bethlehem, darum, daß er von dem Hause und Geschlechte David war;
Auf daß er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe, die war schwanger.
Und als sie daselbst waren, kam die Zeit, daß sie gebären sollte.
Und sie gebar ihren ersten Sohn, und wickelte ihn in Windeln, und legte ihn in eine Krippe, denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.
Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Heerde.
Und siehe, des HErrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des HErrn leuchtete um sie; und sie furchten sich sehr.
Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht, siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird.
Denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der HErr, in der Stadt David.
Und das habt zum Zeichen, ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt, und in einer Krippe liegen.
Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten GOtt, und sprachen:
Ehre sey GOtt in der Höhe, und Friede auf Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen.
Als Eberhard Semmelbauer so weit gelesen hatte, den angenehm dumpfigen Geruch alten Papiers in der Nase und Staub an den Händen, da legte er das Samentütchen für die Zwiebelsorte 'gelbe Birne' wieder zwischen die Seiten des 2. Kapitels im Lukasevangelium und schloss ehrfürchtig das alte Buch.
Er stand auf und ging wieder zu Bett, legte sich neben seine schlafende Katze und wusste, endlich hatte er die Weihnachtsgeschichte gefunden, die ihm mit ihrer Eindringlichkeit und unvergleichlich rhythmischen Sprache nie erreichbar sein würde. Niemals könnte er eine Weihnachtsgeschichte schreiben, die diese Geschichte je übertreffen konnte. Und die Worte klangen in ihm nach und nisteten in seinen Träumen und am Morgen schrieb er sie so nieder, wie er sie gelesen hatte. Er war überzeugt, niemand würde heute noch in der Bibel lesen und den Wortlaut der Weihnachtsgeschichte kennen. Und so gab er sie als seine eigene Geschichte aus und sandte sie seinem Verleger. Er schrieb ihm:
Da habt Ihr nun meine Weihnachtsgeschichte. Es war die beste, die ich je schreiben konnte. Und sie enthält sogar einen richtigen Engel.
Mit weihnachtlichen Grüßen verbleibe ich Ihr sehr ergebener
Eberhard Semmelbauer
Schriftsteller