Auszug aus dem Buch "Die Reise vom gläsernen Baum zum blauen Planeten. Eine Weihnachtssaga"
... Lucas nickt und fährt mit seiner Erzählung fort ...
"... "Dürfen wir denn diesen Planeten betreten?", fragt Paul.
"Ich denke schon", erwidert Mimir. "Während meines letzten Aufenthaltes habe ich hier niemanden angetroffen. Nur eine dunkelrote Rose unter einem Glassturz. Ich habe versucht, mit ihr zu reden. Aber sie hat mich nicht beachtet. So konnte ich leider nichts über diese kleine Welt erfahren."
"Vielleicht ist heute jemand da", sagt Paul hoffnungsvoll und klettert vorsichtig aus seinem Körbchen.
Zum ersten Male verlässt Paul sein Reisegefährt. Das Gehen bereitet ihm keine Schwierigkeiten.
"Mimir! Hier ist ein Loch in der Erde", ruft er.
"Das ist kein Loch, sondern der Krater eines erloschenen Vulkans", sagt eine helle, zarte Stimme plötzlich.
Erschrocken dreht Paul sich um. Ein kleiner Junge, etwa in der Körpergröße eines Zehnjährigen, steht vor ihm.
Der Junge hat ein blasses, sehr hübsches Gesicht. Seine hellblonden Haare sind ziemlich lang. Um den Hals hat er sich einen gelben Schal gewickelt. Sein grünes Gewand fällt bis zu den Füßen. Schuhe benötigt er wohl nicht. Der Boden des kleinen Planeten ist ziemlich warm.
"Ich habe euch zwar nicht eingeladen, heiße euch aber dennoch in meiner Welt herzlich willkommen", sagt er leise und gibt zuerst Mimir und dann Paul die Hand. Eine leichte Röte der Freude überzieht sein blasses Gesicht. Mit einladender Geste bittet er die Fremden näherzukommen.
"Schaut euch nur alles an! Das ist meine kleine Welt."
Der fremde Junge zeigt auf zwei tätige Vulkane. "Es ist sehr wichtig, sie jeden Tag zu kehren; dann brennen sie immer sanft und regelmäßig. Auch den erloschenen Vulkan fege ich immer gründlich aus - man weiß ja nie."
Sein kleines Gesicht bekommt bei diesen Erklärungen einen wirklich wichtigen Ausdruck.
"Möchtest du dich ein wenig ausruhen, Mimir? Leider habe ich nur einen Stuhl. Du kannst gerne darauf Platz nehmen", sagt der Kleine. "Paul und ich wollen einen Spaziergang machen. Du kannst dir in der Zeit einige Sonnenuntergänge ansehen. Natürlich nur, wenn du möchtest, Mimir. Weißt du, Engel, wenn ich traurig bin, sehe ich mir gleich mehrere Sonnenuntergänge an. Dazu verrücke ich den Stuhl nur etwas - und schon sehe ich einen anderen Sonnenuntergang. Auf diese Weise habe ich an einem Tag schon mal dreiundvierzig Sonnenschauspiele erlebt."
"An diesem Tag musst du sehr, sehr traurig gewesen sein", vermutet Mimir.
Der Junge erwidert nichts. Er hat immer noch nicht gelernt, direkt auf Fragen und Mutmaßungen Erwachsener zu antworten. Doch manches Mal, wenn die Frage längst vergessen ist, kommt seine Antwort. Leider hört dann aber niemand mehr zu. Erwachsene denken einfach nicht darüber nach, dass Kinder für ihre Antworten viel Zeit brauchen. Erwachsene sind nahezu immer in Zeitnot. Und für die langsame, auf Ehrlichkeit bedachte Denkweise der kleinen Menschen fehlt den meisten die Geduld. Selten hinterfragen die Großen die Antworten der Kleinen. Nur die Wahrheit fragt sich häufig, weshalb man ihr überhaupt einen Namen gegeben hat ... Doch darüber will der Junge gar nicht grübeln.
Hand in Hand geht er mit Paul durch sein winziges Reich.
"Welches Ziel hat deine Reise?"
"Ich bin auf dem Weg zum Planeten Erde. Dort habe ich eine wichtige Aufgabe zu erfüllen", antwortet Paul.
"Was soll denn deine ach so wichtige Aufgabe sein?"
Paul spürt den leichten Spott in dieser Frage sehr wohl. Mit seiner Antwort lässt er sich viel Zeit.
"Na, sag' schon", drängelt das Kind.
"Ich soll den Menschen die Liebe bringen", sagt Paul leise.
"Das ist wirklich keine leichte Aufgabe, Paul. Tut mir leid, dass ich ein bisschen spöttisch war. Weißt du, Paul, vor langer Zeit bin ich vor meiner Liebe davongelaufen. Auf der Erde hoffte ich, eine viel größere, tausendmal schönere Liebe zu finden. Trost oder gar Freunde habe ich in der Menschenwelt nicht bekommen. Niemand hat mich beachtet. Außerdem habe ich nicht ein einziges Mal erlebt, dass irgendjemand für irgendwen etwas aus Liebe getan hat. Halt! Stimmt nicht ganz. In einem Sandmeer habe ich doch noch einen netten Menschen kennengelernt. Wir sind beinahe Freunde geworden. Antoine hat mir klargemacht, dass ich meine Liebe nicht alleinlassen darf."
Vor einer dunkelroten Rose unter einem Glassturz bleiben die Jungen stehen. Das fremde Kind zeigt auf die Rose. "Das ist meine Liebe. Lange Zeit bin ich mit ihrer hochmütigen Art nicht zurechtgekommen. Über ihre Worte habe ich mich oft geärgert. Jedoch ihr Tun nicht verstanden. Heute weiß ich, dass meine Rose immer etwas für mich tut: Sie blüht das ganze Jahr nur für mich. Wir teilen uns gern die Freude, die sie uns damit bereitet."
In Gedanken versunken schauen die Kinder auf die herrliche Rose. Mimirs Rufen hören sie nicht. Sie bemerken den Engel erst, als er hinter ihnen steht und Paul an die Reise erinnert. Mimir und Paul bedanken sich für die Gastfreundschaft.
Traurig und noch ein wenig blasser sieht der einsame Junge mit einem Male aus. Seine Mundwinkel zucken leicht, als er sagt: "Schade, wir hätten Freunde sein können. Versprich mir zurückzukommen. Spätestens wenn deine Erdenzeit vorüber ist. Der Weg zum Glücklichen Planeten führt durch meine Welt. Denke immer daran!"
Ein erster Abschied. Paul hat etwas gelernt. Er weiß nun, was Traurigkeit bedeutet. Lange winkt er dem einsamen Jungen zu. So lange, bis nur noch der im Wind flatternde gelbe Schal zu sehen ist.
Paul wird müde. Er kuschelt sich ins Körbchen. Nach kurzer Zeit ist er eingeschlafen. Er spürt nicht, dass die Fahrt zur Erde immer mehr Tempo bekommt."
"Meinst du, er sieht seinen neuen Freund jemals wieder?", fragt Laura.
"Ich denke schon. Später! Auf dem Weg zum Glücklichen Planeten wird Paul sich an den Asteroiden und den einsamen Jungen erinnern", antwortet Lucas.