Er stapft durch den Schnee. Das knirschende Geräusch unter seinen Füssen gefällt ihm. Rechts und links des schmalen Pfades türmen sich hohe weisse Wände. Es ist sehr still. Schon längst hat er das Dorf hinter sich gelassen. Er ist allein, es ist Frieden. Im Ort bei den fremden Menschen in dem fremden Land, in dem er gelandet ist vor wenigen Wochen, fühlt er sich nicht recht wohl. Er versteht die Sprache nicht, kann in den Gesichtern nicht genau lesen, ob sie Freunde oder Feinde sind. Ein alter Mann hatte sich ihm in den Weg gestellt und mit leiser Stimme zu ihm gesprochen. Er verstand die Worte nicht, doch die zusammengekniffenen Lippen, die verächtlich starrenden Augen beunruhigten ihn. Eine Frau mit zwei Kindern wechselte die Strassenseite, als er sich ihnen näherte.
Damals, als er seine Heimat verliess, dieses vom Bürgerkrieg gebeutelte Land, mit nichts als seinen Kleidern am Leib und der schrecklichen Erinnerung an seine toten Kinder und seine Frau, hatte er keine Hoffnung mehr. Ebenso gut hätte er ein Gewehr nehmen und in die Menge der Soldaten schiessen können, um selber erschossen zu werden. Dann hätte endlich alles ein Ende gehabt. Stattdessen war er mit seinem Cousin zu diesem Schuppen in der Nähe des Flusses gegangen. Die Männer, zwei Landsleute und zwei fremde weisse Männer hiessen sie willkommen. Sie nahmen das Geld entgegen, alles was er und sein Cousin besassen, und erläuterten ihnen den Weg ins Paradies. Er wollte noch immer sterben, hier in seiner Heimat, wo er als Knabe und als junger Mann zufrieden und manchmal sogar glücklich gewesen war. Damals, als der alte König noch herrschte, nicht zimperlich zwar, doch man konnte mit ihm leben.
Als das Militär die Macht an sich riss, begann das Elend und das unendliche Sterben im Kugelhagel oder an Krankheiten, an unsauberem Wasser und an Hunger. Sein Cousin war noch sehr jung, achtzehn. Er selber fühlte sich mit seinen knapp 30 Jahren alt und müde. Ceylan, seine Gattin, starb an der Cholera genau so wie die Zwillinge. Denpach und Lanjan waren erst acht. Er musste hilflos zusehen. Viel zu wenige Ärzte, keine Medikamente und viel zu viele Kranke. Er sass neben der dünnen Matte, auf der seine Familie im Sterben lag. Er hatte sich so sehr gewünscht, mit ihnen auf die Reise ins Nirgendwo zu gehen.
Sein Cousin war nicht verheiratet. Er wollte leben, arbeiten, ein Haus haben und einst glücklich mit einer eigenen Familie, im Paradies wohnen. Die Männer nahmen ihnen die Papiere ab, bevor eine qualvolle Odyssee per Schiff und Lastwagen durch die halbe Welt begann. Er und sein Cousin waren nicht die einzigen. Sie hatten Hunger und Durst, sassen oder lagen in ständiger Finsternis. Er flüchtete sich in seine Erinnerungen. Spielte mit seinen Freunden am Fluss, trieb mit seinem Vater die Ziegenherde auf die damals noch saftige grüne Weide. Er konnte den herrlich duftenden Eintopf aus Reis, Bohnen und Ziegenfleisch riechen, den seine Mutter für die grosse Familie zubereitete. Er sah Ceylan, die er bereits als junges Mädchen geliebt hatte und erlebte noch einmal die prächtige Hochzeitsfeier, an der auch viele Bewohner der umliegenden Dörfer teilnahmen. Er sah Ceylans müde und strahlende Augen nach der Entbindung. Er hatte die Zwillinge auf dem Arm gehalten und geweint vor Glück. Zwei, drei zufriedene Jahre, dann kamen die Soldaten. Die junge Familie machte sich klein, wollte einfach nur zusammen sein. Viele Dörfer wurden beschossen, schliesslich auch seines. Als die Soldaten abzogen, waren die meisten Ziegen tot, die Felder verwüstet, der Fluss verseucht. Das langsame Sterben begann ...
Das Paradies war kalt und weiss. Er und sein Cousin trugen viel zu dünne Kleidung. Sie wussten nicht wohin. Nirgends war eine Tür, wo sie hätten eintreten können. Eine Polizeipatrouille griff sie schliesslich auf, da waren sie schon halb erfroren.
Er erwachte und ihm war wohlig warm. "Jetzt bin ich wohl im Paradies", dachte er. Als er die Augen aufschlug, beugte sich eine weisse junge Frau über ihn. Er verstand nicht, was sie sagte, aber sie wirkte freundlich. Sie gaben ihm warme Kleidung, gute Schuhe und nahrhafte wohlschmeckende Kost. Bald begriff er, dass er in einem Zentrum für Flüchtlinge gelandet war. Hier traf er auf einige Landsleute und viele fremde Menschen, nur seinen Cousin konnte er nicht finden. Ein Landsmann, der schon einige Zeit hier wohnte, versprach, sich kundig zu machen. Gemeinsam klopften sie an eine Tür, im Raum sass eine freundlich aussehende Frau. Sein Landsmann sprach in einer fremden Sprache zu ihr. Sie wandte sich mit einem Ausdruck der Trauer erst an ihn, dann sagte sie etwas zu seinem Begleiter: "Ihr wart ganz kalt, als ihr gefunden wurdet. Dein Cousin starb im Krankenhaus."
Er ist einsam und ohne Heimat. Manchmal geht er mit anderen Männern aus dem Asylzentrum hinaus. Die fremden weissen Menschen glotzen sie meist nur an. Er spürt ihre Missbilligung, ihre Angst. Er hat auch Angst. Er sieht Mütter und Väter mit ihren Kindern. Sie wirken glücklich, doch auch sie gehen ihm aus dem Weg. Es schneit, die weichen Flocken schweben sanft auf die weisse Decke am Boden und setzen sich auf die Dächer der hübschen Häuschen. Er spürt die Kälte kaum, als er seinen Spaziergang fortsetzt. Frieden erfüllt ihn. Langsam bewegt er sich auf dem weissen Pfad fort. Die Schneemauern rechts und links schützen ihn, geben ihm Geborgenheit. Ein junges Pärchen kommt ihm entgegen. Sie lächeln ihm zu, sagen "Hallo". Er lächelt und nickt, empfindet ein seltenes Glücksgefühl über die Begegnung.
Der Weg wird steiler, über ihm leuchtet ein prachtvoller blauer Himmel. Längst schneit es nicht mehr. Irgendwann wird er müde. Er spürt seine Füsse und Hände nicht mehr, fühlt sich leicht, als könne er davon fliegen. Irgendwann endet der Pfad und vor ihm öffnet sich eine makellose weite Fläche. Er will sich hinlegen, den Himmel betrachten. Und plötzlich entdeckt er die kleine Holzhütte. Ceylan steht da. Sie lacht und winkt ihm zu. Er eilt ihr entgegen, umarmt sie. Im Haus spielen die Zwillinge, und seine Mutter kocht ihren köstlichen Eintopf. Sein Vater nickt ihm zu, lädt ihn ein, sich neben ihn zu setzen. Plaudern und Lachen erfüllen den Raum, bald würden sie zusammen speisen, doch zuvor wird er ein bisschen ruhen. Und er schläft ein.