Um diese Zeit waren die Zeitungen voll von den Taten eines Sträflings, der tollkühn aus dem Gefängnis von San Quentin entflohen war. Er war ein wilder, mordlustiger Geselle, der furchtbar wie ein gewaltiges Raubtier war.
Eines Tages hatte dieser Jim Hall einen Wärter überfallen und ihn übel zugerichtet. Darauf sperrte man ihn in die Zelle für unverbesserliche Verbrecher ein. Dort blieb er drei Jahre. Diese Zelle war ganz aus Eisen - die Wände, die Decke und der Fußboden. Nie verließ er sie, nie sah er Himmel und Sonnenschein. Lebendig war er in der eisernen Gruft begraben. Er sah keinen Menschen, und niemand sprach mit ihm. Sein Essen wurde ihm hinein geschoben. Manchmal brüllte er und schrie ganze Tage und Nächte. Manchmal verharrte er ganze Wochen und Monate in Schweigen.
Man hatte stets behauptet, dass man aus dieser Zelle nicht entfliehen könne, aber eines Morgens war die Zelle leer, nur der Leichnam eines Gefangenenwärters lag darin. Noch zwei Leichen bezeichneten den Weg, den er bis zur Außenmauer eingeschlagen hatte. Die Waffen der Erschlagenen hatte er an sich genommen und war in die Berge geflohen.
Ein hoher Preis wurde auf seinen Kopf ausgesetzt, und habsüchtige Farmer verfolgten ihn mit Flinten. Manchmal traf jemand auf ihn, und dann gab es einen verzweifelten Kampf, über den man am nächsten Morgen in der Zeitung lesen konnte. Die Toten und Verwundeten wurden in die nächste Stadt gebracht.
Plötzlich verschwand Jim Hall. Man hatte seine Spur verloren.
Auch in Sierra Vista las man aufmerksam die Zeitung. Besonders die Frauen taten das voller Angst. Richter Scott lachte sie zwar aus, aber er war es gewesen, der Hall im letzten Jahr seines Richteramtes verurteilt hatte. Im Gerichtshof hatte dieser laut vor den Versammelten geschworen, dass er sich an dem Richter rächen werde.
Wolfsblut wusste von alldem nichts. Aber zwischen ihm und der Gattin des Herrn gab es ein Geheimnis. In jeder Nacht, wenn alle schon schliefen, stand sie auf und ließ Wolfsblut ins Haus ein. Morgens ließ sie ihn hinaus, ehe die Familie wach war.
In einer Nacht, als das ganze Haus schlief, erwachte Wolfsblut, lag aber ganz still. Er sog die Luft ein, die ihm sagte, dass da ein Fremder war. Auch an sein Ohr drangen Laute, die ihm dessen Anwesenheit verrieten. Lautlos folgte er jenem. In der Wildnis hatte er unsäglich scheues Wild gejagt und kannte die Vorteile des Überfalls.
Der Fremde blieb am Fuß der großen Treppe stehen und lauschte. Ebenso regungslos und still stand Wolfsblut und wartete auch. Da hob der Fremde den Fuß und setzte ihn auf die erste Stufe. Wolfsblut wusste, dass oben der Herr und alle seine Liebsten waren. Da sprang er hoch. Ohne einen warnenden Laut, ohne Knurren, schoss er durch die Luft auf die Schultern des Fremden herab und senkte die Zähne in dessen Nacken. Es dauerte nur einen Augenblick, dann hatte er den Mann hintenüber zu Boden gerissen. Als dieser sich aufraffen wollte, griff er ihn wiederum an.
Ganz Sierra Vista erwachte von dem Lärm. Unten war das fürchterliche Getöse eines Kampfes; dazwischen ertönten die Schüsse eines Revolvers und die Stimme eines Menschen, der in Todesnöten schrie. Begleitet wurde das von einem lauten, ununterbrochenen Knurren und Grollen, das sich in das Poltern zerschmetterter Möbel und in das Geklirr zerbrechenden Glases mischte.
Aber ebenso schnell, wie der Lärm begonnen hatte, erstarb er auch. Der Kampf hatte nicht länger als drei Minuten gedauert. Die erschrockene Familie versammelte sich oben an der Treppe.
Von unten kam ein gurgelnder Laut herauf, der sich in ein zischendes Pfeifen verwandelte, das immer leiser wurde und bald ganz aufhörte. Dann ertönte in der Finsternis nur noch ein schweres Keuchen, wie wenn ein Erstickender nach Luft ränge.
Weedon Scott machte Licht und stieg mit dem Richter, den Revolver in der Hand, die Treppe hinunter. Aber diese Vorsicht war nicht nötig. Wolfsblut hatte ganze Arbeit geleistet. Unter den umgeworfenen Möbeln lag ein Mensch, den Richter Scott sofort als Jim Hall erkannte. Eine klaffende Wunde am Hals zeigte, wie er den Tod gefunden hatte.
Dann sahen sie Wolfsblut. Er lag auf der Seite, und seine Augen waren geschlossen. Als die beiden Männer sich über ihn beugten, hob er die Augenlider ein wenig, und sein Schwanz bewegte sich zu einem Wedeln. Scott streichelte ihn und aus seinem Hals stieg als Antwort ein Grollen empor, doch nur leise und schwach. Danach schlossen sich die Augenlider wieder, und der Körper streckte sich steif auf dem Boden aus.
"Es ist aus mit ihm, dem armen Teufel", murmelte sein Herr.
"Das wollen wir doch sehen", entgegnete der Richter und ging zum Telefon. Bald darauf kam der Doktor und arbeitete anderthalb Stunden an Wolfsblut herum.
"Wenn er durchkommt, ist es ein Wunder", sagte er. "Von Tausenden käme unter diesen Umständen kaum einer mit dem Leben davon. Ein Hinterbein ist gebrochen sowie drei Rippen, von denen wenigstens eine in die Lunge gedrungen ist. Außerdem hat er fast alles Blut verloren und höchstwahrscheinlich noch innere Verletzungen davongetragen, denn er ist getrampelt worden; gar nicht zu reden von den drei Kugeln, die durch und durch gegangen sind."
Die ganze Familie, mit Ausnahme der Kinder, stand um Wolfsblut und den Doktor herum. Der Richter rief: "Wir werden alles tun, um ihn durchzubringen, koste es, was es wolle. Und Doktor, tun Sie Ihr Möglichstes!"
Der Doktor lächelte mitleidig. "Natürlich, natürlich, ich verstehe das. Er verdient es, dass alles für ihn getan wird. Übrigens muss er wie ein krankes Kind gepflegt werden."
Und wie wurde Wolfsblut gepflegt! Die Töchter des Richters übernahmen diese Aufgabe selbst, und Wolfsblut kam, allen trüben Prophezeiungen des Doktors zum Trotz, mit dem Leben davon. Er war kein Schwächling, sondern kam geradewegs aus der Wildnis, wo die Schwachen früh untergehen. Weder sein Vater noch seine Mutter, noch seine Voreltern hatten Schwäche gekannt. Eine Gesundheit von Eisen und die Lebenszähigkeit der Wildnis waren sein Erbteil geworden.
Wie ein Gefangener gefesselt und jeder Bewegung durch Binden und Gipsverbände beraubt, brachte Wolfsblut viele Monate zu. Er schlief viele Stunden lang und träumte viel. Das Leben im Norden und seine ganze Vergangenheit zogen an ihm vorüber. Viele schreckliche Ereignisse wurden noch einmal wach.
Endlich kam der Tag, wo der letzte Verband abgenommen wurde. Es war ein großer Festtag für ganz Sierra Vista, deren Bewohner sich um Wolfsblut versammelt hatten. Der Herr kraute ihm die Ohren und Wolfsblut grollte sein Lieblingslied. Die Frauen nannten ihn "den lieben, guten Wolf".
Wolfsblut versuchte sich auf die Füße zu stellen, aber er fiel immer wieder wegen zu großer Schwäche zurück. Er hatte so lange gelegen, dass seine Muskeln alle Spannkraft verloren hatten und alle Kraft daraus verschwunden war. Er fühlte sich über seine Schwäche ein wenig beschämt und vergrößerte seine Anstrengungen noch mehr. Endlich stand er schwankend und taumelnd auf allen vieren.
Alle jubelten und lobten Wolfsblut. "Er wird wieder gehen lernen müssen", bemerkte der Doktor. "Er soll gleich damit beginnen. Es wird ihm nicht schaden. Wir wollen ihn hinausbringen."
Wolfsblut war sehr schwach, und als er den Rasen erreichte, legte er sich nieder und ruhte eine Weile aus. Später setzte sich Wolfsblut mit der ganzen Familie im Gefolge wieder in Bewegung. Als sie die Ställe erreichten, lag dort Collie, und ein halbes Dutzend Hündchen spielte in der Sonne um sie herum. Wolfsblut blickte sie mit verwunderten Augen an. Collie knurrte warnend und er hielt sich vorsichtig zurück. Der Herr schob ein Junges näher zu ihm. Misstrauisch sträubte er das Haar, aber der Herr sprach ihm freundlich zu, dass alles richtig und in Ordnung sei.
Doch Collie, die von einer der Frauen gehalten wurde, knurrte ihn argwöhnisch und unfreundlich an. Das Hündchen stand breitbeinig vor ihm. Wolfsblut spitzte die Ohren und betrachtete es neugierig. Dann näherte er seine Nase der des Jungen und fühlte das warme Zünglein an seiner Schnauze. Auch er streckte die Zunge aus und leckte dem Hündchen das Gesicht. Lauter Jubel und Händeklatschen begrüßten sein Tun. Er war überrascht und sah sich verwundert um.
Dann überkam ihn von neuem die Schwäche, er legte sich nieder, spitzte die Ohren, drehte den Kopf zur Seite und blickte das Hündchen an. Auch die anderen Kleinen kamen zu Collies Entsetzen herbeigewackelt, und er ließ es geschehen, dass sie auf ihm herumkletterten und Purzelbäume schossen. Mit geduldigen, halb geschlossenen Augen lag er in der Sonne.