Vierundzwanzig Stunden waren vergangen, seit Wolfsblut in die Hand des Herrn gebissen hatte. Nun wartete er auf die Strafe, und sein Haar stäubte sich, als er sah, dass sich Weedon Scott ihm näherte.
Der Mann setzte sich einige Fuß weit von ihm entfernt nieder, was allerdings nicht gefährlich aussah. Er würde abwarten. Dann fing der Mann an zu sprechen, und Wolfsblut fing an zu knurren. Der Mann redete ohne Aufhören und so, wie noch nie jemand mit Wolfsblut gesprochen hatte. Es klang sanft und so freundlich, dass er in seinem Inneren irgendwie angenehm berührt wurde. Unwillkürlich fing er an, zu diesem Menschen Vertrauen zu fassen.
Das währte eine lange Weile, dann stand Scott auf und ging ins Haus hinein. Wolfsblut betrachtete ihn genau, als er wieder heraus kam, aber er konnte keinen Knüttel, keine Waffe oder etwas Ähnliches entdecken. Scott setzte sich wieder wenige Schritte von Wolfsblut entfernt nieder und hielt ihm ein Stückchen Fleisch hin. Wolfsblut spitzte die Ohren und betrachtete es misstrauisch, indem er Scott nicht aus den Augen ließ. Er dachte an seine früheren schrecklichen Erfahrungen und war vorsichtig.
Endlich warf Scott das Fleisch dicht vor Wolfsbluts Füßen auf den Schnee hin. Dieser beroch es sorgfältig, ohne ein Auge von dem Mann zu wenden. Da ihm nichts passierte, verschlang er den Bissen. Noch mehrmals wurden ihm Fleischstücke hingeworfen, die er fraß, ohne dass etwas geschah.
Dann kam der Augenblick, wo Scott sich weigerte, ihm das Fleisch hinzuwerfen. Er reichte es ihm mit der Hand. Das Fleisch schmeckte gut, und Wolfsblut war hungrig. Schritt für Schritt, mit unendlicher Vorsicht, näherte er sich der Hand. Er ließ ein leises Grollen als Warnung ertönen. Nun verzehrte er das Fleisch Stück für Stück, ohne dass eine Züchtigung kam.
Er leckte sich das Maul und wartete, während Scott mit ihm redete. Die Stimme war gütig und weckte in ihm Empfindungen, die er noch nicht kannte. Wolfsblut überkam eine seltsame Zufriedenheit.
Als sich die Hand seinem Kopf näherte, wurde er sofort wieder misstrauisch. Aber der Mann redete immer weiter, und die Stimme klang sanft und vertrauenserweckend. Die Hand kam immer näher. Jetzt berührte sie die Spitzen der zu Berge stehenden Haare. Er duckte sich, aber die Hand folgte ihm und presste sich dicht an ihn. Die Berührung war ihm eine Qual, denn sie tat seinem Instinkt Gewalt an. Er konnte nicht an einem Tag all das Böse vergessen, das Menschenhände ihm angetan hatten.
Aber es war der Wille dieses neuen Herrn, und Wolfsblut zwang sich zur Unterwerfung. Dann hob sich die Hand und senkte sich wieder und klopfte ihn liebkosend. Das wiederholte sich eine Weile lang. Dabei grollte Wolfsblut leise als Warnung, dass er zugefügte Schmerzen heimzahlen würde.
Die Liebkosung war angenehm, ja, als das Klopfen sich langsam in ein Krauen der Ohren verwandelte, war es ein wirkliches, körperliches Vergnügen. Dennoch blieb er auf der Hut.
"Na, da soll doch gleich das Donnerwetter dreinschlagen!", sprach Matt, der aus dem Blockhaus kam.
Weedon Scott lächelte überlegen, stand auf und trat dicht an Wolfsblut heran. Er sprach sanft mit ihm und legte dann langsam die Hand auf seinen Kopf, indem er ihn wieder streichelnd liebkoste. Wolfsblut ließ es geschehen, heftete jedoch misstrauisch die Augen auf den anderen Mann.
"Sie mögen wohl viel von den Goldgruben verstehen", ließ sich der Hundetreiber vernehmen, "aber eigentlich hätten Sie als Tierbändiger in den Zirkus eintreten sollen."
Das war für Wolfsblut der Anfang vom Ende seines alten Lebens und der Herrschaft des Hasses. Ein neues, unendlich schönes Leben begann. Weedon Scott hatte viel Geduld, denn Wolfsbluts Wesen musste vollständig umgewälzt werden. Dieser Mann weckte in ihm die Kräfte der Liebe.
Diese Liebe kam aber nicht an einem Tag, sondern entwickelte sich allmählich. Wolfsblut lief nicht weg, denn er hatte den neuen Herrn gern. Er zeigte seine Untertänigkeit dadurch, dass er das Eigentum des Herrn bewachte. Wenn die Schlittenhunde schliefen, wanderte er um das Blockhaus herum. Er lernte, Diebe von ehrlichen Leuten zu unterscheiden, indem er ihren Gang und ihre Haltung beurteilte.
Weedon Scott hatte es sich zur Aufgabe gemacht, das Unrecht, das die Menschen Wolfsblut angetan hatten, wieder gut zu machen. Jeden Tag machte er es sich zur Pflicht, gut und freundlich zu Wolfsblut zu sein und ihn lange zu liebkosen und zu streicheln.
So misstrauisch, ja feindselig er dies anfangs hingenommen hatte, so gewann er dieses Streicheln nach und nach lieb. Allerdings grollte er dabei stets vom Anfang bis zum Ende, aber es lag ein neuer Klang darin, was nur Scotts Ohren hören konnten. Für Fremde klang Wolfsbluts Knurren noch immer wild, denn seine Kehle war durch die vielen grimmigen Laute, die er in all den Jahren ausgestoßen hatte, rau geworden.
Die Tage vergingen, und Wolfsbluts Neigung entwickelte sich zur Liebe. Er fühlte sie, ohne dass er wusste, was es ist. Wenn sein neuer Herr nicht da war, empfand er Unruhe und Sehnsucht, aber in seiner Gegenwart ging diese Liebe oft in wilde Freude über. Für ihn nahm er alle Unbequemlichkeiten auf sich. Statt am frühen Morgen, wie er es sonst zu tun pflegte, auf Raub herumzulaufen oder in einem warmen Winkel zu liegen, lag er nun auf den kalten Treppenstufen und wartete auf das Eintreffen des Herrn. Nachts verließ er bei dessen Erscheinen den geschützten Platz, den er sich im Schnee gegraben hatte, nur um eine freundliche Berührung seiner Hand, ein Wort zum Gruß zu empfangen. Selbst sein Futter konnte er stehen lassen, um einen Gang mit dem Herrn in die Stadt zu machen oder eine Liebkosung von ihm zu erhaschen.
Was ihm gegeben wurde, das gab er reichlich wieder. Sein Herr war für ihn wirklich ein Gott, liebevoll, warm und strahlend. In dem Licht seiner Liebe entwickelte sich Wolfsbluts Wesen wie eine Blume in der Sonne. Trotzdem blieb er zurückhaltend und scheu, wofür seine lange Vereinsamung die Schuld trug.
Ihm wurde beigebracht, die Hunde des Herrn in Ruhe zu lassen, und sie gingen ihm aus dem Weg. Nach und nach lernte er Matt als zum Herrn gehörig anzusehen. Er wurde zum Leithund des Schlittengespanns. Trotzdem Wolfsblut den ganzen Tag über vor dem Schlitten arbeitete, gab er nachts die Wache über das Eigentum seines Herrn nicht auf. Stets auf dem Posten, immer wachsam und treu, wurde er bald der wertvollste aller Hunde.
Im späten Frühling brach ein großer Kummer über Wolfsblut herein. Ohne eine Ankündigung verschwand plötzlich der Gebieter. In der ersten Nacht wartete er trotz des kalten Windes voll ängstlicher Sorge auf den kalten Stufen des Hauses vergeblich auf ihn.
Am Morgen erschien Matt, und Wolfsblut blickte ihn fragend an, aber es gab keine Sprache, um sich miteinander zu verständigen. Die Tage kamen und gingen, aber kein Herr erschien. Wolfsblut fing an zu kränkeln, ja, er wurde so schwach, dass Matt ihn ins Blockhaus nehmen musste. Matt schrieb in seiner Not eine Nachricht an Weedon Scott:
"Der verdammte Wolf will nicht arbeiten, frisst auch nicht mehr, hat gar keinen Lebensmut. All die anderen Hunde kriegen ihn unter. Er weiß nicht, was aus Ihnen geworden ist, und ich kann es ihm nicht beibringen. Am Ende stirbt er noch!"
Wolfsblut lag nahe am Ofen, ohne sich um sein Futter, um Matt und alles rings um ihn zu kümmern. Ob Matt freundlich zu ihm sprach oder über ihn fluchte, das war ihm egal. Manchmal wendete er die trüben Augen nach ihm, ließ dann aber den Kopf wieder traurig auf die Vorderpfoten fallen.
Eines Abends jedoch überraschte Matt ein leises Gewinsel von Wolfsblut. Dieser hatte sich aufgerichtet und den Kopf nach der Tür gewandt. Einen Augenblick später öffnete sich diese, und Weedon Scott trat ein. Die beiden Männer schüttelten sich die Hände und Scott fragte: "Wo ist Wolfsblut?"
Der stand wartend am Ofen und wedelte mit dem Schwanz. Weedon Scott machte ein paar Schritte auf ihn zu und rief ihn. Wolfsblut kam langsam und verlegen näher. Scott hockte auf den Fersen, so dass er Wolfsblut Auge in Auge anblicken konnte. Er liebkoste ihn, indem er ihm die Ohren kraute, ihm Nacken und Schultern streichelte und ihm sanft auf den Rücken klopfte. Da gab auch Wolfsblut seiner großen Liebe einen neuen Ausdruck. Er streckte den Kopf vor und steckte ihn unter den Arm des Herrn, tief, tief hinein, so dass nichts weiter als die Ohren zu sehen waren. Diesmal grollte er auch nicht, sondern schmiegte sich nur immer tiefer hinein.
Die beiden Männer blickten einander an, und in Scotts Augen glitzerten Tränen.
Von dem Augenblick an, da sein Gebieter zurückgekehrt war, erholte sich Wolfsblut rasch. Zwei Nächte und einen Tag blieb er noch drinnen, dann rannte er hinaus. Die Schlittenhunde hatten seinen Mut und seine Stärke vergessen, aber Wolfsblut erinnerte sie schnell daran. Die Hunde traten daraufhin einen schmachvollen Rückzug an und bezeigten demütig ihren Gehorsam.
Wolfsblut liebte es jetzt, seinen Kopf unter den Arm des Herrn zu stecken. Sein Kopf war bisher dasjenige gewesen, was er immer eifersüchtig behütet hatte. Er hatte es nie gemocht, dass dieser berührt wurde. Der Instinkt der Wildnis hatte ihm zugeflüstert, dass der Kopf frei bleiben müsste. Sein jetziges Verbergen des Kopfes unter dem Arm des Gebieters war der Ausdruck vollkommenen Vertrauens, gänzlicher Hingabe.
Eines Abends saßen Scott und Matt beim Kartenspiel, als draußen ein gellender Schrei ertönte, dem ein lautes Knurren folgte. Die beiden Männer blickten sich an und sprangen auf. "Wolf hat einen gepackt!", rief Matt. Ein wilder Schrei, wie der eines Menschen in Todesangst, beschleunigte ihre Schritte.
Im Schein einer Lampe sahen sie einen Menschen im Schnee auf dem Rücken liegen. Er hatte das Gesicht und den Hals mit den Armen bedeckt, um sich vor Wolfsbluts Zähnen zu schützen. Das war auch notwendig, denn dieser versuchte immer wieder, ihm an die Kehle zu kommen. Die Jacke war schon in Fetzen gerissen, und die Arme waren schrecklich zerbissen und blutüberströmt. Scott packte Wolfsblut an der Kehle und zerrte ihn weg. Auf ein Wort seines Herrn hin beruhigte er sich schnell.
Matt half dem Mann auf. Als dieser auf den Beinen stand und die Arme sinken ließ, erkannten sie den schönen Schmitt. Matt bemerkte zwei Gegenstände, die im Schnee lagen, eine stählerne Kette und einen derben Knüttel. Die Männer sprachen kein Wort, aber Schmitt verstand, dass er augenblicklich verschwinden musste.
Der Gebieter streichelte Wolfsblut und sprach zu ihm. "Der wollte versuchen dich zu stehlen, he? Und du wolltest das nicht zulassen? Ja, ja, der hat sich geirrt, nicht wahr?" Wolfsblut grollte noch immer, erregt und mit gesträubtem Haar, aber den liebkosenden Ton der Stimme konnte er immer deutlicher in sich hören.