Das Wölflein ruhte sich zwei Tage aus, dann wagte es sich wieder aus der Höhle. Es fand das junge Wiesel wieder und fraß es. Wenn es müde war, ging es zur Höhle zurück. Jeden Tag ging es nun auf Abenteuer aus und wagte sich immer weiter hinaus.
Es fing an, seine Stärke gegen seine Schwäche genau abzuwägen und zu wissen, wann es kühn und wann es vorsichtig sein musste. Dabei erinnerte es sich stets an die Erfahrungen, die es bei seinen bisherigen Ausflügen gemacht hatte. Allmählich nahm es den schleichenden Gang der Mutter an, indem es scheinbar ohne Anstrengung mit unberechenbarer Schnelligkeit dahin glitt.
Lange machte es keine neue Beute, aber mit jedem Tag stieg das Verlangen zu töten. Der junge Wolf hatte großen Respekt vor der Mutter. Ging diese auf Raub aus, so brachte sie ihm stets seinen Anteil daran heim. Sie hatte auch vor nichts Angst. Es kam ihm nicht in den Sinn, dass diese Furchtlosigkeit auf Erfahrung beruhte, es machte ihm den Eindruck von Macht.
Abermals brach eine Hungersnot aus, und das Wölflein erfuhr diesmal bei klarem Bewusstsein die Pein des nagenden Hungers. Die Wölfin magerte ab. Sie blieb kaum noch in der Höhle. Die meiste Zeit verbrachte sie auf der Suche nach Beute, aber immer ohne Erfolg. Der junge Wolf fand keine Milch mehr in der Mutterbrust, und er bekam auch nicht einen Bissen Fleisch. In seinem Hunger studierte er sorgfältig die Gewohnheiten einiger Tiere, des Eichhörnchens, der Waldmäuse, der Spechte und anderer Vögel.
Aber auch diese Hungersnot ging vorüber, und die Wölfin brachte wieder Fleisch heim. Das erste war ein halbausgewachsener Luchs. Mit vollem Bauch lag das Wölflein in der Höhle dicht neben der Mutter und schlief. Es wachte durch ihr Knurren auf. Nie hatte er sie so fürchterlich knurren hören. Im vollen Licht der Nachmittagssonne lag die Luchsin vor dem Eingang der Höhle. Im Wölflein regte sich die Liebe zum Leben. Es stand auf und stellte sich mit tapferem Knurren neben die Mutter. Sie schob es aber beiseite und stellte sich davor.
Die Luchsin konnte des niedrigen Eingangs wegen nicht in die Höhle hineinspringen, aber als sie behände hineinkroch, sprang die Wölfin auf sie los und drückte sie zu Boden. Das Wölflein sah von dem Kampf nur wenig, allerdings hörte es fürchterliches Knurren, Fauchen und Kreischen. Die beiden Tiere hieben aufeinander los. Die Katze, indem sie mit den Krallen riss und kratzte und auch die Zähne gebrauchte, während die Wölfin nur ihre Zähne hatte.
Einmal sprang das Wölflein herzu und biss der Luchsin in eins der Hinterbeine. Es hielt fest und knurrte wütend. Ohne dass es das wusste, lähmte es dadurch die Bewegung des Beines und ersparte so der Mutter manche Wunde. Allerdings ließ es das Bein bei einer heftigen Bewegung fahren.
Einen Augenblick später trennten sich die beiden Feinde und bevor sie von neuem aufeinander losstürzten, versetzte die Luchsin dem Wölflein einen Schlag mit der Vorderpfote, riss ihm die Schulter bis zum Knochen auf und schleuderte es an die Wand. Trotzdem griff es noch einmal mutig in den Kampf ein. Wiederum packte es die Katze bei einem der Hinterbeine und hielt es zornig knurrend fest, bis der Kampf zu Ende war.
Zwar war die Luchsin endlich tot, aber auch die Wölfin war sehr verletzt. Sie liebkoste ihr Junges und leckte ihm die wunde Schulter, aber der große Blutverlust hatte sie sehr schwach gemacht. Einen Tag und eine Nacht lag sie bewegungslos und kaum atmend neben der toten Feindin. Acht Tage verließ sie die Höhle nur um zu trinken. Auch danach waren ihre Bewegungen noch matt und müde. In dieser Zeit fraßen sie die Luchsin.
Die Wunden der Wölfin heilten wieder so weit, dass sie auf Raub ausgehen konnte. Die Schulter des Wölfleins blieb noch eine Weile steif und tat sehr weh. Beim Gehen hinkte es. Aber die Welt hatte sich seit dem Kampf verändert. Es fühlte sich als Held. Es hatte gekämpft, die Zähne ins Fleisch des Feindes geschlagen und war am Leben geblieben. Nun trat es kühner auf, und kleinere Geschöpfe jagten ihm keine Furcht mehr ein.
Fortan begleitete es die Mutter auf ihren Streifzügen. Es sah, wie Beute gemacht wurde und spielte dabei selbst eine Rolle. Es lernte das Recht auf Fleisch kennen. Es gab zwei Arten von Leben: das eigene, das auch die Mutter einschloss, und das der anderen. Dies umfasste all die Geschöpfe, die entweder von ihm und den seinen getötet und gefressen wurden, oder die es töten und fressen würden, wenn sie es könnten. Fleisch war die Grundbedingung des Lebens. "Friss oder werde gefressen", so lautete das Gesetz.
Das Wölflein sah, wie dieses Gesetz ringsumher in Kraft war. Das eigene Leben, das Spiel seiner Muskeln verursachte ihm unendliches Wohlbehagen, die Jagd auf Beute lebendiges Entzücken. Selbst Zorn und Kampf waren Genuss.
Es gab auch Erleichterung und Zufriedenheit. Mit vollem Magen faul in der Sonne zu dösen, das war voller Ersatz für Arbeit und Mühe.