Am Vormittag des zweiten Tages gelangte ich auf die Spitze eines Berges. Vor mir senkte sich das Land hinunter zum Meer, und in der Mitte dieses Hanges erblickte ich auf einem langen Bergrücken die Stadt Edinburgh. Auf dem Schloss wehte eine Fahne, Schiffe fuhren oder ankerten in der Förde. Mein Herz schlug höher, denn in meiner ländlichen Abgeschiedenheit hatte ich nie so etwas gesehen.
Indem ich immer wieder fragte, fand ich den Weg nach Cramond. Als ich meinem Ziel schon ganz nah war, nannte ich bei meinen Befragungen den Namen des Hauses Shaws mit. Dieses Wort schien alle zu überraschen, und ich fragte mich nach dem Grund.
Um meine Beklemmung zu beruhigen, wechselte ich die Art meines Fragens. Einen Burschen, der mit einer Karre daher kam, fragte ich, ob er je was vom Hause Shaws gehört habe. Auch er sah mich merkwürdig an. "Ja, was soll's damit?"
"Das ist doch ein großes Haus, und wie sind die Leute, die darin wohnen?"
Darauf meinte er: "Gewiss, das Haus ist groß, aber die Leute? Bist du närrisch? Da wohnen keine Leute … was man Leute nennen könnte."
"Wie?", sagte ich erstaunt, "nicht Mister Ebenezer?"
"O ja", erwiderte der Mann, " da ist freilich der Laird, wenn es der ist, den du suchst. Aber was hast du Bürschlein wohl dort zu suchen?"
"Man hat mir gesagt, ich könnte dort in Dienst gehen", gab ich zurück.
"Was?", schrie er. "Es geht mich ja nichts an, aber da du ein anständiger Kerl zu sein scheinst, kann ich dir nur raten, dich vom Hause Shaws fern zu halten."
Als nächstes traf ich einen Barbier mit einer schönen weißen Perücke. Ihn fragte ich geradezu, was für eine Art Mann der Mister Balfour von Shaws sei. "Bah", sagte er, "gar keine Art Mann, überhaupt kein Mann."
Ich wurde immer unruhiger. Welcher Art mochte dieses Haus sein, wenn hier alle Leute zurückfuhren und einen groß anstarrten, wenn man nur nach dem Weg dorthin fragte? Was war das für ein Mann, der in der ganzen Gegend einen so schlechten Ruf hatte? Ich wäre am liebsten umgekehrt, aber schon aus bloßer Selbstachtung musste ich durchhalten.
Als der Sonnenuntergang schon nah war, begegnete ich einem Weib. Sie kam mühsam einen Berg hoch. Als ich meine gewohnte Frage stellte, drehte sie sich schroff um und wies auf alles, was im Tal zu sehen war. Die Gegend war lieblich: Hügel, Gewässer und Wald. Die Ernte stand ausgezeichnet. Aber das Haus selbst schien eine Art Ruine zu sein: Kein Weg führte hin, kein Rauch stieg aus dem Schornstein auf, nichts erinnerte an einen Garten. Mein Mut sank tief.
Unheildrohender Groll überflammte das Antlitz des Weibes. "Das ist das Haus Shaws!", rief sie. "Blut hat es gebaut. Blut hat den Bau unterbrochen. Blut soll es dem Boden gleichmachen! Ich verfluche es! Wenn du dem Laird begegnest, sage ihm, was du hörst! Sag ihm: Zum zwölfhundertundneunzehnten Mal hat Jennet Clouston heute den Fluch des Himmels herab gerufen über ihn und sein Haus, über seine Rinder und Pferde, über jeden Mann, Gast und Junker, über jedes Weib, Mädchen oder Kind! Furchtbar, furchtbar sollen sie zugrunde gehen!"
Dann war das Weib ganz schnell verschwunden. Ihr Fluch wollte mir das Mark aus den Knochen zehren. Ich setzte mich und starrte nach dem Hause Shaws. Je länger ich mich umblickte, umso lieblicher erschien mir die Landschaft. Und dennoch, das zerfallene Gebäude bedrückte mich sehr.
Als endlich die Sonne unterging, sah ich doch etwas Rauch aufsteigen. Es war zwar nicht sehr viel, aber Rauch bedeutete Feuer, und Feuer bedeutete Wärme und Kochen und einen lebendigen Bewohner. Das tröstete mein Herz wunderbar, und ich ging weiter auf einem kaum sichtbaren Pfad. Schließlich kam ich zu ein paar wappengekrönten Seitenpfeilern und einem Pförtnerhaus daneben, dem das Dach fehlte. Dies hatte offenbar ein Haupteingag werden sollen, aber er war nicht vollendet. An Stelle von schmiedeeisernen Toren waren zwei Weidenzäune zwischen den Pfeilern befestigt. Mein Pfad schlängelte sich daran vorbei zum Haus.
Je näher ich kam, umso trostloser wurde der Eindruck. Es sah aus wie der Flügel eines Hauses, das nicht ganz ausgebaut war. Wo der andere Flügel sich hätte anschließen sollen, da standen die oberen Stockwerke offen und streckten unfertiges Mauerwerk, Stufen und Stiegen zum Himmel hinauf. Viele von den Fenstern waren ohne Scheiben, und Fledermäuse flogen ein und aus.
Die Nacht war hereingebrochen und durch drei von den unteren Fenstern, die schmal und vergittert waren, schimmerte schwach das flackernde Licht eines kleinen Feuers. War das der Palast, in dem ich neue Freunde finden und Großes erleben sollte? Vorsichtig trat ich näher, spitze dabei die Ohren und hörte jemanden mit Schlüsseln klappern. Manchmal wurde ein leichter, trockener, scharfer Hustenlaut hörbar, aber kein Wort ertönte.
Beklommenen Herzens hob ich die Hand und klopfte an die Tür. Totenstille war in dem Haus eingetreten. Ich wartete eine Minute, aber nichts außer den Fledermäusen regte sich. Ich klopfte noch einmal, nichts rührte sich. Ich war im Zweifel, ob ich wegrennen sollte, aber mein Ärger gewann die Oberhand. Ich ließ Fußtritte und Faustschläge auf die Tür hageln und schrie laut Mister Balfours Namen. An einem Fenster genau über mir hörte ich schließlich einen Hustenlaut, blickte hinauf und sah den Kopf eines Mannes und daneben die Öffnung einer Donnerbüchse.
"Sie ist geladen!", sagte eine Stimme.
"Ich komme mit einem Brief an Mister Ebenezer Balfour von Shaws", gab ich zurück. "Ist der Herr hier?"
"Von wem ist der Brief?", fragte der Mann mit der Büchse.
"Das ist jetzt nicht die Frage", sagte ich, und heftiger Zorn überkam mich.
"Du kannst ihn auf die Treppenstufen legen und dann: Auf Nimmerwiedersehen!", war die Antwort.
"Ich denke nicht daran!", rief ich jetzt. "In Mister Balfours Hände will ich den Brief übergeben, wie es mir aufgetragen wurde. Es ist ein Einführungsbrief."
"Ein was?", rief die Stimme zurück, scharf und schneidend. Ich sagte das Wort ein zweites Mal.
"Wer bist du denn selbst?", war die nächste Frage nach einer längeren Pause.
"Ich schäme mich nicht meines Namens", sagte ich. "Ich heiße David Balfour."
Auf diese Worte hin musste der Mann zusammengefahren sein, denn ich hörte die Büchse am Fenstersims klappern. Nach einer längeren Pause kam mit seltsam veränderter Stimme die nächste Frage: "Ist dein Vater tot?"
Ich war so betroffen, dass ich keine Antwort fand. Da nahm der Mann wieder das Wort: "Jawohl, er wird gestorben sein, kein Zweifel. Deshalb kommst du her und klopfst an meine Tür." Wieder eine Pause und dann: "Gut denn, Bursche, ich will dich einlassen." Damit verschwand er vom Fenster.