„Wohl, aber die Kleine will Sie gerne sehen.“
„Ich möchte doch lieber nicht zu ihr, wenn es der Arzt ausdrücklich verboten hat!“
„Wenn das Kind will, kann man doch nichts machen, kommen Sie doch!“ Gretchen weigerte sich nicht länger und folgte in ein Schlafgemach mit drei Betten, das schlecht gelüftet und nicht aufgeräumt, einen unangenehmen Eindruck machte. Die Kleine lag blaß und matt in ihrem Bett, aber bei Gretchens Eintritt setzte sie sich auf und die Erregung machte ihr rote Bäckchen.
„Wie geht’s dir denn, kleine Maus?“ fragte Gretchen zärtlich. Aber Ruth konnte nicht zu Wort kommen, die Mutter fing die Frage auf: „Sie liegt so elend da und mag nichts essen, bloß Kaffee will sie trinken, und der Arzt sagt doch, es sei Gift für sie. Ich muß ihn ihr immer ganz heimlich geben, daß es mein Mann nicht sieht.“ Gretchen wußte gar nicht, was sie darauf sagen sollte. Von zu Hause war sie gewöhnt, daß Vater und Mutter nichts vor einander verbargen und daß beide taten, was vernünftig und recht war, nicht was dem Kind beliebte. Sie konnte diese Frau nicht verstehen, wandte sich an Ruth und erzählte ihr leise von Rudi und Betty. Die Kleine lauschte auf Gretchens Worte, aber es war nicht leicht, eine Unterhaltung zu führen, denn Frau Holland begann nun hastig im Zimmer aufzuräumen, was allerdings nottat.
„Es ist noch nicht gebettet hier innen,“ sagte sie, „ich kam heute vormittag nicht dazu; mein Dienstmädchen ist nämlich nur so aus dem Dienst gelaufen, schon die vierte, die es so macht, die Verdingerin schickt mir absichtlich die schlechtesten.“ Frau Holland begann ihr Bett zu machen, dicht neben Gretchen. Diese sah erstaunt auf. Die kleine Patientin fing den Blick auf und verstand. „Mama,“ bat sie, „mach’ doch das Bett nicht, solange mein Fräulein da ist.“
„Ich will jetzt nicht länger stören,“ sagte Gretchen, denn der Aufenthalt in diesem Zimmer war ihr peinlich. „Bleiben Sie nur, Ruth muß doch Unterhaltung haben.“ Sie ließ nun das Betten einstweilen sein, ging aber ruhelos bald da bald dorthin.
Im Nebenzimmer hörte man Schritte. „Papa kommt,“ rief die Kleine wie erschreckt. Der Forstrat trat ein, Gretchen ging ihm entgegen und gab ihm unbefangen die Hand, er war ja ihr guter Freund, hatte ihr selbst vor dem Fest die Blumen gebracht. Er begrüßte sie auch heute mit herzlicher Freundlichkeit, aber bald verfinsterte sich sein Ausdruck, und mit einem Ton, aus dem die tiefste Mißstimmung klang, sagte er zu seiner Frau: „Diese Unordnung und diese Luft!“ und rasch riß er die beiden Fenster weit auf. „Das Kind erkältet sich,“ rief die Frau.
„Das Kind geht noch zugrund durch deine Schuld!“ rief der Mann, verließ das Zimmer und warf die Türe schmetternd hinter sich zu. Die Kleine erzitterte und drückte ihr Köpfchen wie beschämt in die Kissen. Die Frau schloß die beiden Fenster und ging, fast ebenso hastig wie der Mann, nach der andern Seite ab.
Gretchen war ganz erschüttert über dies traurige Familienbild. Sie beugte sich über das Kind, drückte einen Kuß auf ihr schmales Gesichtchen und sagte liebevoll: „Komm du nur recht bald wieder zu mir, du bist mein kleiner Liebling.“
Leise verließ sie das Zimmer, war froh, daß sie niemanden begegnete und atmete erleichtert auf, als sie sich wieder auf der Straße befand. „Über diese Schwelle gehe ich so bald nicht wieder,“ sagte sie leise vor sich hin.
Was sie gesehen und gehört hatte, ging ihr den ganzen Tag nach, und ein namenloses Mitleid mit der kleinen Ruth preßte ihr fast Tränen aus. Wie konnte das zarte Pflänzchen in dieser Luft und Pflege gedeihen?