„Sie sieht auch recht elend aus,“ sagte Gretchen und nahm sich vor, der Kleinen einen Krankenbesuch zu machen.
Bei ihrer Heimkehr traf sie unter der Haustüre mit dem Briefträger zusammen; sie erkannte gleich auf dem Brief, den er ihr entgegenhielt, die Handschrift ihrer Tante, Frau van der Bolten. Vergnügt eilte sie damit die Treppe hinauf. „Mutter, wo bist du? Ein dicker Brief von der Tante ist gekommen!“ rief sie. „Endlich hört man wieder etwas von ihr,“ entgegnete Frau Reinwald und las, während Gretchen neben ihr stand und begierig wartete, bis ihr die Mutter etwas daraus mitteilen würde. Sie hatte für die ganze Familie das wärmste Interesse, auch enthielten die Briefe meist irgend eine Notiz über Fräulein Trölopp, obwohl diese nicht mehr in der Familie weilte.
„Allerlei Neues und schöne Pläne,“ sagte Frau Reinwald, nachdem sie gelesen hatte. „Denke dir, van der Boltens haben für den ganzen Sommer ein Häuschen im Gebirg gemietet. Mit Beginn der Ferien sollen einstweilen die Kinder alle hinaus und von Fräulein Trölopp bemuttert werden, bis nach ein paar Wochen onkel und Tante nachkommen.“
„Wie nett,“ sagte Gretchen, „daß wieder Fräulein Trölopp dabei sein wird, und diesmal bekommt sie es angenehmer als im Winter während des Scharlachs!“
„Ja, gewiß; doch ist es auch nichts Leichtes, die Verantwortung für fremde Kinder allein zu übernehmen!“
„Besonders, wenn Oskar dabei ist; aber sie wird schon fertig mit ihm, überhaupt mit allem, was sie unternimmt!“ sagte Gretchen in voller Bewunderung.
Am Nachmittag trat sie die Wanderung an zu Ruth Holland. Nie mehr war sie dort gewesen seit jenem Tag, da sie sich entschuldigen mußte wegen der Ohrfeige, und die Erinnerung kam ihr lebhaft, als sie in das Haus trat und an der Kanzlei vorbei hinauf zu der Wohnung ging. Auch diesmal wurde sie wieder in das kleine Empfangszimmer geführt, auch heute kam ihr die Frau Forstrat entgegen. Sie sah etwas befremdet auf Gretchen, sie erkannte sie wohl nicht mehr. Gretchen stellte sich vor. „O, ich kenne Sie schon,“ rief die Frau Forstrat, „aber es wäre nicht nötig gewesen, daß Fräulein von Zimmern Sie geschickt hätte! Wenn das Kind nicht wirklich krank wäre, hätte es die Schule nicht versäumt. Sagen Sie nur Fräulein von Zimmern, ein solches Mißtrauen wäre bei uns nicht am Platz.“ Gretchen war sehr erstaunt über diese Auffassung. „Fräulein von Zimmern schickt mich gar nicht,“ sagte sie; „ich wollte mich selbst gern nach Ruth erkundigen und sie ein wenig besuchen.“
„Ich weiß schon, so sagt man ja wohl, aber es ist doch anders gemeint. Ruth ist recht krank, keine Schulkrankheit, nein gewiß nicht, richten Sie das nur Fräulein von Zimmern aus.“
„Darf ich ein wenig zu ihr hinein?“
„Nein, Fräulein, Sie müssen es mir schon so glauben. Der Arzt hat nicht erlaubt, daß jemand zu ihr kommt, kein Mensch darf zu ihr hinein.“ „Das tut mir recht leid,“ sagte Gretchen wirklich enttäuscht und wollte sich eben noch näher nach des Kindes Krankheit erkundigen, da ertönte aus dem Nebenzimmer der Klang einer Glocke, und ohne ein Wort zu sagen, folgte Frau Holland dem Glockenzeichen und ließ Gretchen allein. Diese wußte nicht recht, sollte sie gehen oder bleiben? Vielleicht lag Ruth im Nebenzimmer, hatte ihre Stimme erkannt und wollte ihr etwas sagen lassen. Sie wartete. Nach kurzer Zeit kam Frau Holland zurück. „Ruth möchte Sie sehen,“ sagte sie, „kommen Sie nur herein.“