„Du kleine Unglücksprophetin!“ rief die Tante lächelnd. Aber die schwankende Wagschale hatte sich durch dies Kinderwort doch geneigt, Frau Reinwald legte das alte Kleid wieder an seinen Ort, nahm Betty bei der Hand und sagte: „Komm, wir gehen hinunter und kaufen ein neues Kleid, die Königin darf kein Loch sehen.“ Und Betty durfte mit, als Frau Reinwald ging, um den Stoff zu kaufen und die Kleidermacherin zu bestellen.
„Mutter,“ sagte Gretchen im Heimweg von diesem Ausgang, „ich muß doch geschwind zu Lene, kein Mensch freut sich so wie sie, wenn sie hört, daß ich die Erste geworden und zur Königin eingeladen bin.“
„Es ist wahr, das ist etwas für unsere Lene, gehe nur zu ihr, so etwas darf man der treuen Seele nicht vorenthalten.“
Lene war diesmal nicht allein, alle drei Buben waren daheim; schon vor der Türe hörte Gretchen sie lärmen und mußte bei sich denken: Die Wilden sind noch immer nicht gezähmt. Sie mochte sich nicht gerne vor so viel Zeugen ihres Glückes rühmen und fragte zunächst nur nach Lenes Ergehen. Aber Lene war mit diesem Thema gleich fertig, etwas anderes schien sie zu beschäftigen. „Gretchen,“ sagte sie, „kannst du dir den Hofkutscher Plitt noch denken, der bei meiner Hochzeit war? Der ist ein alter Kamerad von meinem Mann und kommt oft mit ihm zusammen. Der hat uns erzählt von dem Fest, das die Königin gibt, du mußt ja auch schon davon gehört haben, von eurer Schule müssen doch auch die Ersten eingeladen sein. Da gibt’s eine großartige Bewirtung und Spiele und am Schluß wird die Prinzessin in ihrer goldenen Wiege gezeigt. O Gretchen, ich habe so an dich denken müssen, du bist doch meistens die Zweite und könntest längst die Erste sein, wenn du nur recht wolltest; aber schon von klein an hat’s dir am rechten Ehrgeiz gefehlt und sieh, jetzt hättest du zur Königin kommen können!“ Gretchen sah Lene mit strahlenden Augen an und sagte ganz einfach: „Ich bin ja die Erste.“
„Du bist die Erste? Ja, seit wann denn? Machst du keinen Spaß? Dann bist du eingeladen zum Fest, wirklich? Ja? Und da kommt sie so ruhig zur Tür herein und sagt: Grüß Gott, Lene, wie geht’s dir? Buben, habt ihr’s gehört? Mein Gretchen ist die Erste und ist zur Königin eingeladen!“ Freilich hatten es die Buben gehört, längst waren sie nicht mehr die Wilden, ganz zahm standen sie da und horchten. Jetzt sprach der Große: „Ich hab’ mir’s schon ausgedacht, daß der Vater sie in die Residenz fahren muß, ich schreib es ihm gleich in seinen Kalender, am zwanzigsten nachmittags.“ „In der neuen Hochzeitskutsche,“ rief der zweite, „das macht sich fein vor der Residenz.“ „Die wird der Vater nicht nehmen, für die rechnet er immer die doppelte Taxe.“ „Die nimmt er, sag ich!“ „Die nimmt er nicht.“ Die Brüder gerieten in Streit. „Seid still, ihr Buben, und verderbt mir meine Freud’ nicht,“ rief Lene und nun erzählte sie ganz ausführlich alles, was der Hofkutscher Plitt gesagt hatte, erkundigte sich nach Gretchens Festkleid und war glücklich, als sie hörte, daß schon die Schneiderin bestellt sei, um ein ganz neues Kleid zu machen.
Gretchen ging sehr vergnügt heim, Lenes große Freude hatte ihre eigene Freude noch erhöht. Am Abend, als Rudi und Betty in ihren Bettchen lagen, waren auch sie noch erfüllt von der Neuigkeit des Tages, so daß sie nicht gleich einschlafen konnten, und wer an der Türe des Schlafzimmers lauschte, konnte folgendes Zwiegespräch zwischen den Kleinen vernehmen: