Von all dem glaubte Gretchen nichts, ihr Vater mußte von etwas anderem wissen. Es war auch etwas ganz anderes. Als um zehn Uhr die Schülerinnen versammelt waren – auch Lehrerinnen hatten sich eingefunden – trat Fräulein von Zimmern in den Saal. Die Neugierde der ganzen Versammlung war so groß, daß von selbst alles Geplauder verstummte und lautlose Stille eintrat. Gespannt waren die Blicke aller auf die Vorsteherin gerichtet, als diese sprach: „Ich habe gestern abend ein Schreiben bekommen aus dem Kabinett der Königin. Ihr wißt wohl alle, daß in unserem Königshaus große Freude herrscht, weil unserer Königin nach drei Prinzen eine Prinzessin geschenkt wurde. An dieser Freude sollen nun die Bewohner der Residenzstadt auch teilhaben und darum hat Ihre Majestät die Königin beschlossen, ein Fest zu veranstalten zu Ehren der kleinen Prinzessin. Zu diesem Fest sind an sämtliche Mädchenschulen unserer Stadt Einladungen ergangen. Von jeder Klasse ist die erste Schülerin auf Donnerstag den zwanzigsten dieses Monats in die königliche Residenz eingeladen. Somit ist auch aus unserer Schule die erste jeder Klasse geladen. Die anderen Schülerinnen, die nicht eingeladen sind, sollen am zwanzigsten nachmittags schulfrei sein, und wenn es irgend möglich ist, soll ein Schulspaziergang mit ihnen unternommen werden. Das Schreiben ist von Ihrer Majestät der Königin eigenhändig unterschrieben.“ Fräulein von Zimmern hielt es hoch, um es die Schülerinnen sehen zu lassen, dann sagte sie: „Ihr könnt nun alle den Saal verlassen, außer den Ersten der zehn Klassen, diese sollen zu mir kommen.“ Nun war es mit der Stille vorbei, unter großem Tumult leerte sich langsam der Saal.
Als Gretchen die Mitteilung vernommen hatte, war ihre erste Empfindung eine triumphierende Freude gewesen: Ja, sie war ein Glückskind! Zum erstenmal ist sie in dieser Schule die Erste, und gerade diesmal wird den Ersten eine Auszeichnung zuteil, und eine solche! Eine Einladung in die Residenz, zum Prinzeßchen. Aber gleich kam eine schmerzliche Empfindung und verdrängte die Freude; Hermine ist ein Unglückskind! Wäre die Einladung auch nur ein paar Tage früher ergangen, so wäre sie unter den Geladenen gewesen! Gretchen wandte sich um, hinter ihr stand Hermine, ihre Blicke begegneten sich. Wohl war Hermine ein wenig erblaßt, und Tränen standen in ihren Augen, aber trotzdem nickte sie Gretchen freundlich zu. Ja, sie war eine selbstlose, treue Freundin, sie gönnte ihr das Glück, so durfte sich auch Gretchen freuen.
Die zehn Mädchen, die in dem Saal zurückblieben, waren so verschieden in Alter und Größe wie nur möglich, aber alle waren sie gleich strahlend in freudiger Überraschung.
Als Fräulein von Zimmern allein war mit ihren Auserkorenen, teilte sie ihnen noch einiges Nähere mit. Dem Schreiben der Königin lag eine Anweisung bei, die besagte, daß die Schulvorsteher die Namen der geladenen Kinder mitteilen sollten, worauf für dieselben Einladungskarten folgen würden. Auch wegen der Kleidung war einiges bestimmt: Die Mädchen sollten in weißen Kleidern erscheinen, ohne Hüte, mit Blumenkränzchen.
Herr und Frau Reinwald hatten schon vorher von dieser Einladung gewußt und waren deshalb nicht mehr überrascht, als Gretchen ihnen dies alles mitteilte, aber um so mehr Staunen erregte ihre Botschaft bei Rudi und Betty. Eingeladen bei der Königin, das klang ja wie ein Märchen, und Gretchen stand vor den Augen der Kleinen wie eine verzauberte Prinzessin.
Frau Reinwald war bald darauf in der Bodenkammer zu sehen, wo sie Gretchens weißes Kleid hervorsuchte. Die kleine Betty war ihr gefolgt, denn alles, was mit dem Fest der Königin zusammenhing, war ihr hochinteressant. Frau Reinwald wandte das weiße Kleid hin und her und kam nicht recht zum Entschluß, ob es wohl für das Fest noch gut genug wäre. Die Kleine verfolgte alle ihre Bewegungen und las mit sorgenvollem Gesichtchen in den Mienen der Tante. Endlich griff sie mit ihren Fingerchen den feinen Stoff und sagte ernsthaft: „Tante, dein Gretchen zerreißt das Kleid, und die Königin sieht das Loch.“