Frau Reinwald teilte Fräulein von Zimmern mit, wie Gretchen ganz gegen ihren Willen in Heimlichkeiten verwickelt worden war. Das wußte Gretchen und so war es ihr auch nicht bange, als sie an einem der nächsten Schultage in das Zimmer der Vorsteherin beschieden wurde; aber lebhaft kam ihr in Erinnerung, wie sie das letzte Mal so ungnädig aus diesem Stübchen entlassen worden war. Diesmal wurde sie freundlich angeredet. „Du weißt wohl,“ sagte Fräulein von Zimmern, „daß deine liebe Mutter alles aufgeklärt und in Ordnung gebracht hat, was unklar und verwirrt war. Ich habe über diese Sache nichts mehr zu bemerken. Ich habe dich rufen lassen wegen Ruths Stunden. Die Kleine hat nun ihre Kamerädinnen eingeholt und braucht keine Nachhilfestunden mehr, doch wäre es gut, wenn du sie noch ein wenig im französischen Lesen übtest; willst du das noch diesen Monat hindurch tun?“
„Jawohl, gerne.“
„Wie gefällt dir nun das Unterrichten? Möchtest du gelegentlich wieder eine kleine Schülerin?“
„Lieber nicht,“ sagte Gretchen offenherzig, „ich habe mir’s eben eigentlich doch lustiger gedacht.“
„Eben, eigentlich, doch,“ wiederholte Fräulein von Zimmern, „drei Füllwörter nebeneinander! Alle drei könnten wegbleiben. In deinem letzten Aufsatz mußten auch einige Füllwörter gestrichen werden. Achte künftig besser darauf! – Lustig ist das Unterrichten freilich nicht; aber eine Freude ist es doch, die Fortschritte einer Schülerin zu beobachten und am meisten, wenn man dabei die Liebe der Schülerin zu gewinnen versteht. Dies ist dir gelungen, Ruth ist dir sehr anhänglich.“
„Ich habe sie auch lieb.“
„Das freut mich. Du kannst nun gehen, mein Kind.“ Vertraulicher als es sonst ihre Art war, reichte Fräulein von Zimmern Gretchen die Hand und sah sie freundlich an, so ganz anders als bei dem letzten Gespräch; Gretchen fühlte sich so glücklich darüber, daß sie in Gefahr kam, der würdigen Dame zum zweitenmal um den Hals zu fallen. Sie faßte sich aber noch und verabschiedete sich mit dem vorschriftsmäßigen Knicks. Draußen aber, da ihr gerade die kleine Ruth in den Weg lief, packte sie dieselbe in fröhlichem Übermut, setzte sich auf die unterste Treppenstufe, zog das Kind auf ihren Schoß und rief: „Weißt du schon, Ruth, daß wir nun bloß noch miteinander lesen müssen, keine langweiligen Übersetzungen mehr schreiben, keine schweren Wörter mehr lernen? Ist das nicht lustig? Hast du’s schon gewußt? Ja? Hat dir’s Fräulein von Zimmern gesagt oder Fräulein Bertrand?“
„Beide.“
Das war wieder eine spärliche Antwort auf solchen Erguß; aber Gretchen war im Augenblick viel zu vergnügt, um sich über irgend etwas zu ärgern. Sie lachte nur und sagte: „Gelt, du hast noch nie einen Verweis bekommen wegen der vielen Füllwörterchen; wenn man bei dir ein Wort streicht, so bleibt überhaupt nichts mehr übrig.“ Ruth verstand nicht, was Gretchen mit den Füllwörtern meinte; aber sie empfand den guten Humor und fühlte sich ganz behaglich als Schoßkind. Aber da ging die Türe auf und Fräulein von Zimmern trat in den Vorplatz. Im Nu sprang Gretchen in die Höhe und zog die Kleine mit sich fort, noch ehe die gestrenge Vorsteherin ihr die Bemerkung machen konnte, daß die Treppe nicht zum Sitzplatz bestimmt sei.
Hermine ging wieder in die Schule. Wenn sie noch einen Tag weggeblieben wäre, hätte sie ihre schöne Freundin, Fräulein Geldern, nicht mehr gesehen.