„Ja, ja, es steht darin, ich habe es selbst gelesen. Nachdem sie sich endlich dazu überwunden hatte, hat sie wirklich schön geschrieben, so daß es den Eltern wohltun muß, und auch ihr selber ist es jetzt leichter ums Herz, sie hat mir gedankt zuletzt.“
„O Mutter, wie du das so zustande gebracht hast!“
„Jetzt gute Nacht, Kind; es ist höchste Zeit, daß du schläfst!“
„Gute Nacht und danke, danke, danke, Mutter!“
Am frühen Morgen des nächsten Tags, vor Beginn der Schule, eilte Gretchen zu Hermine. Diese mußte hören, welche Wendung die Dinge mit Fräulein Geldern genommen hatten. Aber als sie nach Hermine fragte, erklärte das Dienstmädchen: „sie schläft noch.“
„Es ist doch schon acht Uhr vorbei,“ sagte Gretchen ärgerlich.
„Freilich, aber sie ist eben noch nicht ganz gesund und deshalb bleibt sie länger liegen.“
„Ich will doch einmal nachsehen, ob sie noch fest schläft,“ entgegnete Gretchen und wartete nicht weiter auf die Einwilligung des Mädchens. Ohne anzuklopfen trat sie leise in Herminens Schlafzimmer. Die Vorhänge waren zugezogen, es war dunkel und still im Zimmer; Hermine lag schlafend, das Gesicht nach der Wand gekehrt. Gretchen zögerte ein wenig. Durfte sie die Freundin wecken? Nein, aber doch ein wenig probieren, ob sie noch fest schlief oder bald von selbst aufwachen würde. Leise flüsterte sie: „Hermine, Fräulein Geldern war bei uns.“ Die Schläferin bewegte sich ein wenig.
„Hermine, Fräulein Geldern hat der Mutter alles anvertraut.“
Die Schläferin wandte sich Gretchen zu, aber die Augen waren noch geschlossen.
„Hermine, Fräulein Geldern hat an ihre Eltern geschrieben und sie um Verzeihung gebeten.“ Jetzt öffnete die Schläferin die Augen und sah mit Erstaunen auf Gretchen. „Guten Morgen, Hermine,“ sagte diese voll Vergnügen, daß die Freundin wach war. „Guten Morgen, Gretchen. O, es ist schade, daß du mich geweckt hast, ich habe gerade von Fräulein Geldern so schön geträumt!“
„Ich habe dich eigentlich nicht geweckt, ich habe dir nur erzählt; o Hermine, es ist jetzt alles offen und klar, und bald wird Fräulein Geldern aus aller Not sein!“ Jetzt war Hermine ganz munter und voll Teilnahme für alles, was ihr die Freundin erzählte. Mitten in dem Bericht trat Frau Braun ein und war nicht wenig erstaunt, Besuch im Schlafzimmer zu finden. „Das wird hoffentlich dein letzter Krankenbesuch bei Hermine sein,“ sagte sie zu Gretchen, „morgen darf sie wieder in die Schule.“ Das war eine frohe Botschaft für Gretchen; fröhlichen Sinns verabschiedete sie sich und wanderte leichten Herzens, wie schon lange nicht mehr, in ihre Schule.
Fräulein Geldern suchte heute nicht die Gelegenheit, mit Gretchen zusammenzukommen, aber als sie sich zufällig auf der Schultreppe trafen, drückte sie ihr die Hand und flüsterte ihr zu: „Grüßen Sie mir Ihr goldiges Mütterlein!“ Nun wußte Gretchen, daß die Freundin ihr nicht mehr zürnte wegen des „Verrats“.