„Auch das noch? Nun meinetwegen. Rufe mich eben, wenn es soweit ist.“
„Es kann noch eine gute Weile dauern. Gretchen, gehe du einstweilen zu Bett, es wird spät.“
„Zu Bett? O Mutter, ich kann doch so nicht schlafen?“
„Doch, nun kannst du ruhig schlafen, es wird alles gut werden, für dich und für sie. Gute Nacht, mein Kind.“
Die Mutter verließ das Zimmer und Gretchen ging zu Bett. Aber sie lag wach, es wollte sich nicht wie sonst der Schlaf gleich einstellen. Es tat ihr weh, daß Fräulein Geldern heute abend kein freundliches Wort für sie gehabt hatte, aber es war ja natürlich: sie konnte die nicht mehr lieb haben, die sie verraten hatte. Als Gretchens Gedanken endlich anfingen in Tränen überzugehen, wurde sie durch das Öffnen und Schließen der Türen wieder munter gemacht. Draußen wurden Abschiedsworte gewechselt, Herr Reinwald ging mit Fräulein Geldern fort. Gretchen setzte sich auf in ihrem Bett und horchte gespannt nach dem Tritt der Mutter. Wenn sie doch nur auf einen Augenblick noch zu ihr käme! Sie konnte der Mutter Tun verfolgen: zuerst geht die Küchentüre, nun knarrt das Türchen vom Speisschrank – der Kaffee wird herausgegeben, wieder eingeschlossen. Jetzt gehen die Tritte nach dem Zimmerchen, in dem die Kleinen schlafen, da wird noch ein Fensterflügel auf- oder zugemacht; dann – ja, Gretchens Hoffnung täuscht sie nicht – dann kommt der Mutter Tritt ganz nahe, leise geht die Türe auf und fast unhörbar fragt die Mutter: „Gretchen, wachst du noch?“ Und dann sitzt die Mutter auf dem Bettrand, Gretchen umschlingt sie mit den Armen und bittet: „O Mutter, jetzt sage mir alles!“
„Wenn du denn doch noch wach bist,“ sagte Frau Reinwald, „so will ich dir noch erzählen, was ich von Fräulein Geldern erfahren habe. Sie ist aus vornehmer Familie, ist ein verwöhntes Mädchen, das sich in Trotz und Unverstand vor einigen Monaten aus dem Elternhaus entfernt hat, als man ihr zum erstenmal den Willen nicht ließ. Sie wollte eine offenbar törichte Heirat eingehen, die die Eltern nicht zugeben konnten, und faßte den Entschluß, in die Welt hinaus in Stellen zu gehen und nicht eher ins Elternhaus zurückzukehren, als bis ihre Eltern nachgeben würden. Und die Eltern, tief verletzt über dieses Benehmen, haben sie ziehen lassen. Fräulein Geldern war offenbar der Meinung, die Eltern könnten sie nicht entbehren und würden sie zurückrufen; sie hat ihnen auch mitgeteilt, auf welchem Postamt sie nach Briefen von ihnen fragen würde. Sie hat aber stets umsonst gefragt und hat die Erfahrung machen müssen, daß die Eltern wohl solch eine Tochter entbehren können, aber die Tochter nicht die Eltern. Sie ist bald in Not geraten, da sie ohne jegliche Empfehlung keine dauernde Stelle finden konnte; trotzdem hat sie sich nicht entschließen können, ihre Eltern um Verzeihung zu bitten, sondern hat lieber gedarbt, verkauft und gebettelt, wie du ja weißt. Sie ist hochmütig und verblendet, wie ich es noch nicht leicht getroffen habe.“
„Aber schön ist es doch von ihr, daß sie dir das alles so aufrichtig gestanden hat,“ sagte Gretchen, die ihre Freundin nicht fallen lassen wollte.
„Es hat einen harten Kampf gekostet, bis sie mir die Wahrheit gestanden hat, noch einen härteren, bis sie eingesehen hat, daß sie im Unrecht ist, und den härtesten, bis sie sich entschlossen hat, ihre Eltern um Verzeihung zu bitten und ihnen Gehorsam zu versprechen.“
„Hat sie das getan in dem Brief, den der Vater besorgt?“ fragte Gretchen eifrig; „steht es auch gewiß darin?“