In diesem Augenblick trat Herr Reinwald ins Zimmer. Gretchen eilte zur Türe hinaus; sie mochte sich vor dem Vater nicht in Tränen sehen lassen – er konnte das nicht leiden – auch wollte sie es nicht mit anhören, wie Fräulein Gelderns sorgfältig gehütetes Geheimnis weiter gesprochen wurde. Sie ging zu den Kleinen; diese merkten zwar, daß der bessere Trost noch nicht gewirkt hatte, aber da Gretchen liebevoll auf ihr Spiel einging, waren sie auch mit einem traurigen Gretchen zufrieden.
Lange sprachen die Eltern miteinander, bei Tisch aber wurde nichts erwähnt und Gretchen wußte nicht, wie der Vater über die Sache dachte. Am Nachmittag schrieb die Mutter einen Brief, und Gretchen sagte sich schmerzlich: es wird an Fräulein von Zimmern sein. Da rief Frau Reinwald sie freundlich herbei. „Willst du dies Briefchen lesen? Ich will es durch Franziska an Fräulein Geldern schicken.“
Gretchen las: „Liebes Fräulein! Es wäre mir leid, wenn Sie glaubten, Gretchen habe Ihnen irgendwie geschadet. Ich hoffe das Gegenteil und möchte Sie gerne sprechen. Wollen Sie wohl heute abend unser Gast sein und einmal wieder an einem gemütlichen Teetisch Platz nehmen?“
„Mutter, was meinst du!“ rief Gretchen; „es ist gar kein Gedanke, daß sie zu uns kommt, sie ist viel zu arg erbittert gegen mich!“
„Das wollen wir erst sehen. Wenn man fremd, einsam und – hungrig ist, kann man nicht leicht einer Einladung widerstehen. Es ist ein Versuch; gelingt er nicht, so können wir weiter sehen.“
Franziska traf Fräulein Geldern nicht zu Hause und hinterließ das Briefchen der Hauswirtin. Als es Abend wurde, wartete Gretchen in zunehmender Aufregung. Kommt sie? Kommt sie nicht?
Und sie kam. Gegen Gretchen war sie etwas zurückhaltend, aber sonst zeigte sie sich in ihrer feinen, anmutigen Liebenswürdigkeit und sah so reizend aus, daß Gretchen ganz hingenommen war von ihrer Erscheinung und ordentlich stolz auf ihre schöne Freundin. Die Eltern waren freundlich gegen den jungen Gast und mit keinem Wort wurde etwas erwähnt, das für Fräulein Geldern hätte peinlich sein können.
Als Gretchen nach dem Essen den Tisch abräumen half, kam die Mutter einen Augenblick mit ihr hinaus und sagte leise: „Bleibe du nun ein wenig in deinem Zimmer, ich will allein mit Fräulein Geldern sprechen.“
„Aber Mutter, nicht wahr, du fragst sie gewiß nicht über ihre Familie, denn das ist ihr schrecklich.“
Frau Reinwald antwortete darauf nicht, sondern kehrte gleich zu ihrem Gast zurück, während Herr Reinwald in sein Zimmer ging und Gretchen das ihrige aufsuchte. Es war ihr recht unbehaglich zumute; sie dachte sich, daß für Fräulein Geldern nun eine peinliche Unterredung kommen würde. Sie hoffte in einer Viertelstunde wieder gerufen zu werden, aber sie wartete umsonst von einer Viertelstunde zur andern. Die Kinder waren schon zu Bett gebracht und es wurde allmählich ganz still im Hause. Da drang bis in Gretchens Zimmer die Stimme von Fräulein Geldern; immer erregter klang dieselbe, und nun hörte man lautes Weinen. Gretchen konnte es nicht mehr aushalten; ganz außer sich kam sie in Herrn Reinwalds Zimmer. „O Vater,“ rief sie, „ich höre Fräulein Geldern laut weinen, wie kann die Mutter sie so quälen! O wenn ich denke, daß ich an all dem allein schuld bin, und sie hat mich doch immer ihre Freundin genannt!“
„Das bist du auch jetzt noch, und nur deiner Freundschaft zuliebe haben wir so gehandelt und haben das Fräulein zu uns eingeladen; denn das muß ich dir sagen: eine Lehrerin, die von Schülerinnen verlangt, daß sie ihr heimlich Geld bringen, verdient eigentlich eine andere Behandlung, und statt zum Tee hätte sie auch vor Gericht geladen werden können.“ Gretchen erschrak. Daß es der Vater so ernst nehmen würde, hätte sie nicht gedacht. „Übrigens,“ sprach Herr Reinwald, „scheint es mir, als ob es drüben nun ganz still geworden wäre.“ In der Tat hörte man keinen Laut mehr, und wenn vorhin die lebhaften Stimmen aufregend waren, so hatte die nun eingetretene absolute Ruhe, als sie eine Weile dauerte, auch etwas Unheimliches. Endlich hörte man die Türe gehen, Frau Reinwald trat in ihres Mannes Zimmer. Sie sah sehr erregt aus, als sie zu ihrem Mann sagte: „Fräulein Geldern schreibt eben einen Brief an ihre Eltern. Ich habe sie mit aller Mühe dazu überredet und es wäre mir sehr leid, wenn sie wieder schwankend würde und den Brief nicht abschickte. Möchtest du sie nicht heimbegleiten und dich überzeugen, daß sie den Brief wirklich in den Schalter wirft?“