In den vielen Jahren ihres Wirkens war es der ernsten, gemessenen Vorsteherin noch nie vorgekommen, daß eine der Schülerinnen sie umarmt hätte. Sie fühlte die warme Liebe des Kindes, das in diesem Augenblick der höchsten Erregung sich hatte hinreißen lassen, und sie erwiderte diese Liebe. Sie sann und sann und kam zu einem Entschluß.
Als sie um 10 Uhr in die Oberklasse kam, um Literaturstunde zu geben, und Gretchen, in Erinnerung an das Geschehene, tief errötend zu ihr aufsah, war Fräulein von Zimmern nichts anzumerken.
Um 11 Uhr erschien Pfarrer Kern. Da Fräulein von Zimmern sich nicht gleich entfernte, zitterte Gretchen schon bei dem Gedanken, daß sie vielleicht zuhören und dann die Fragestellerin erraten würde. Aber nein, sie verließ das Zimmer; der Pfarrer nahm ihren Platz ein, und ohne irgend welche Einleitung las er von dem, Gretchen wohlbekannten Papier die Frage ab: „Ist es wohl immer unrecht, wenn man etwas heimlich tut, und soll man jemand lieber in Armut und Not lassen, als ihm helfen, wenn er sich bloß heimlich helfen lassen will?“
Es wurde ganz still am grünen Tisch. Gretchen war keine Meisterin in der Verstellung; wer auf sie gesehen hätte, würde ihre Erregung und Spannung bemerkt haben, aber die Blicke der meisten waren auf den Pfarrer gerichtet, und dieser sah auf das Blättchen. „Es ist mir lieb,“ sagte er nun, „daß ihr die Rede auf Heimlichkeiten gebracht habt. Wir sind nicht ausführlich darauf zu sprechen gekommen in unserem Unterricht, und warum nicht? Weil Heimlichkeiten nicht verboten sind in den zehn Geboten, nicht verboten sind durch unsern Herrn Jesus. Daraus seht ihr schon, daß sie nicht so, wie etwa das Stehlen, schlechthin und unter allen Umständen Sünde sind. Gibt es doch auch ganz harmlose Heimlichkeiten, wie z. B. Weihnachtsgeheimnisse, die kein vernünftiger Mensch als Unrecht ansehen wird.
„Aber es ist etwas ganz Merkwürdiges mit den Heimlichkeiten. Wenn wir ihnen recht auf den Grund gehen, dann entdecken wir meistens, daß sie aus einer schlechten Neigung hervorgehen. Denkt euch z. B., eines von euch schreibt oder liest, kauft oder besorgt, ißt oder trinkt etwas heimlich, die Eltern sollen es nicht sehen. Warum denn nicht? Vielleicht weil sie es verbieten würden – dann soll die Heimlichkeit den Ungehorsam decken, oder weil der Einkauf nicht nötig wäre – dann steckt Verschwendung dahinter oder Naschhaftigkeit; sehr oft auch soll durch die Heimlichkeit ein guter Schein erweckt werden: die Besorgung, die ihr gestern vergessen habt, macht ihr heute heimlich, damit ihr nicht als nachlässig getadelt werdet, wo ihr es doch verdient hättet; kurzum, wenn ihr aufrichtig prüft, was euch zur Heimlichkeit verlocken möchte, dann werdet ihr finden – es ist fast ohne Ausnahme ein Unrecht, eine kleine Abweichung vom geraden Weg. Daher kommt es auch, daß edle Menschen das Heimliche verachten. Heimlichkeiten sind ein Deckmantel, den edle Menschen nicht benützen mögen, weil schon so viel Schlechtes damit bedeckt war. Wo irgend im Leben mir ein Mensch begegnet ist, der heimlich war in seinem Tun, habe ich immer Mißtrauen gegen ihn empfunden, und so werdet auch ihr, wenn ihr euch Heimlichkeiten gestattet, das Vertrauen verlieren, ja leicht in schlimmen Verdacht kommen und euch sagen müssen: Um mir eine kleine Widerwärtigkeit zu ersparen, habe ich viel größere auf mich geladen.
„Auf meinem Zettel steht nun aber die Frage, ob man auch nichts Heimliches tun soll, um andern aus Armut und Not zu helfen?
„Dagegen möchte ich euch, meine Vierzehn- oder Fünfzehnjährigen fragen: wie wollt ihr denn andern aus Armut und Not helfen? Wißt ihr, daß das zu den größten, schwierigsten Aufgaben gehört, über die in Büchern und Zeitungen, Vorträgen und Versammlungen von den bedeutendsten Männern beraten wird? Und diese Aufgabe wollt ihr auch nur an einem Menschen lösen? Meint ihr, wenn ein Mensch euch um eine Mark bittet, und ihr gebt sie ihm, nun sei ihm geholfen? Warum braucht er eure Mark? Ist er schuld daran, daß er nicht hat, was er bedarf, oder sind es die Verhältnisse? Wird er die Mark zu Gutem oder Schlechtem verwenden? Um diese Fragen zu beantworten, braucht man eine Erfahrung und Menschenkenntnis, die man in so jungen Jahren nimmermehr besitzt. Wenn sich nun ein Mensch in seiner Not an ein junges, unerfahrenes Mädchen wendet und Heimlichkeit verlangt, dann ist seine Sache keine reine, gute, und ihr müßt euch frei davon machen, lieber heute als morgen; wie, kann ich nicht sagen, wenn ich den Fall nicht kenne; aber ich möchte euch recht dringend ans Herz legen: Macht euch frei von Heimlichkeiten, um jeden Preis!“