Mit allerlei Proviant, den sie für Fräulein Geldern bestimmt hatte, machte sich Gretchen auf den Weg zur Schule. Erworben hatte sie alles auf ehrliche Weise, doch mußte sie es heimlich forttragen, und wie sie es Fräulein Geldern unbemerkt zustecken sollte, das wußte sie noch gar nicht. Sie war etwas früher als nötig von zu Hause fortgegangen und hielt sich eine gute Weile in dem Vorplatz des Schulhauses auf, in der Hoffnung, daß Fräulein Geldern kommen würde und sie ihr unbemerkt auf der Treppe das Päckchen zustecken könnte. Als aber eine ihrer Kamerädinnen nach der andern kam und jede fragte: Auf wen wartest du? wurde ihr dieser Posten unangenehm und sie ging vor das Haus, der Straße zu, aus der Fräulein Geldern kommen mußte. Die Zeit verstrich, schon kamen nur noch einzelne, verspätete Schülerinnen eiligen Laufes auf das Institut zu. Endlich tauchte in der Ferne Fräulein Geldern auf. Gretchen eilte ihr entgegen und übergab ihr das Paket. Mit dankenden Worten nahm es Fräulein Geldern und ging dann rasch voran der Schule zu, während Gretchen absichtlich noch ein wenig zögerte und dann langsam folgte, um nicht zugleich mit Fräulein Geldern in der Schule anzukommen.
Inzwischen war schon das Zeichen zum Beginn der Klasse gegeben worden. Es war aber Sitte in dem Institut von Fräulein von Zimmern, daß mit dem Glockenzeichen die große Haustüre geschlossen wurde, so daß jede Verspätete klingeln mußte und durch ein Dienstmädchen eingelassen wurde. Meist öffnete sich dann die Türe vom Zimmer der Vorsteherin, wenn die Verspätete vorüberkam; und wenn Fräulein von Zimmern auch nur einen strengen Blick für dieselbe hatte, so war diese Einrichtung doch allen so peinlich, daß höchst selten die Hausglocke ertönte.
Gretchen war deshalb auch sehr bestürzt, als sie das Haus geschlossen fand. Aber was wollte sie tun? Sie mußte sich wohl entschließen, zu klingeln. Sie tat es möglichst sachte, aber diese Hausglocke hatte immer etwas Feindseliges und nahm Partei gegen die Verspäteten; wenn sie noch so leise berührt wurde, dröhnte sie laut durchs ganze Haus.
Gretchen huschte so rasch wie möglich durch den Vorplatz, um unbemerkt an dem Zimmer der Vorsteherin vorbeizukommen, aber die gefürchtete Tür öffnete sich trotzdem und Fräulein von Zimmern rief erstaunt: „Du bist es, Gretchen? Ich sah dich doch schon vor einer Viertelstunde an der Haustüre. Hattest du etwas vergessen? Nein? Komm mit mir herein und gib mir Antwort.“ Aber Gretchen, die der Vorsteherin in das Zimmer gefolgt war, schwieg. Dies mußte Fräulein von Zimmern auffallen, es war nicht Gretchens Art.
„Wo hast du dich aufgehalten?“ fragte sie nun in strengem Ton.
„Ich habe nicht gedacht, daß es schon so spät ist,“ entgegnete Gretchen.
„Ist das eine Antwort auf meine Frage? Wo warst du, Gretchen?“
„Nur auf der Straße.“
„Was wolltest du da?“
„Nur ein wenig warten.“
Da sprach Fräulein von Zimmern nicht mehr in strengem, aber in traurigem Ton zu Gretchen: „Du gebrauchst Ausflüchte? Du, Gretchen?“ Eine große Stille folgte, in Gretchens Augen sammelten sich Tränen.
„Geh hinaus, du tust mir weh,“ sprach Fräulein von Zimmern und wandte sich ab. Aber Gretchen in überwallendem Gefühl des Schmerzes umschlang Fräulein von Zimmern und rief in leidenschaftlicher Erregung: „O, verzeihen Sie mir, ich kann ja nicht anders, ich darf ja nichts sagen!“ und dann stürmte sie zum Zimmer hinaus.