Bald darauf entleerte sich das Schulzimmer, die Kinder sprangen an Gretchen vorbei die Treppe hinunter, nur Ruth blieb zurück. Bisher hatte sie sich immer stillschweigend an den Platz gesetzt, der ihr in der ersten Stunde angewiesen worden war. Heute aber ging sie an den Kleiderrechen, nahm von dort eine Tasche, brachte sie herbei, packte sie aus und – o Wunder – sie nahm einen Anlauf und sprach einen ganzen Satz: „Da habe ich zwei Geschichtenbücher mitgebracht und ein Bilderbuch.“ Gretchen freute sich und schilderte der Kleinen, wie vergnügt Rudi und Betty darüber sein würden; da wurde die kleine Ruth förmlich übermütig, denn sie sprach noch einen zweiten Satz: „Wir haben noch mehr Bücher, ich kann noch viele bringen.“ Und am Schluß dieser Stunde geschah etwas Unglaubliches; Ruth fragte: „Soll ich Ihnen die Bücher bis an Ihr Haus tragen?“ Über diese Artigkeit war Gretchen fast bestürzt, und sie hatte schon auf der Zunge, zu antworten: „Nein, ich danke, ich kann sie schon selbst tragen,“ als ihr gerade noch einfiel, daß die Mutter zu ihr gesagt hatte: „Verlange einmal eine Gefälligkeit von ihr,“ und so antwortete sie: „Ja, bitte, trage sie mir, wenn du nicht meinst, daß du zu spät nach Hause kommst.“
„O nein, Papa selbst hat gesagt, ich solle Ihnen die Bücher tragen.“ Diese freundliche Gesinnung freute Gretchen sehr. Während sie mit Ruth unterwegs war, besann sie sich, wie sie wohl die scheue Kleine bestimmen könnte, mit ihr hinaufzugehen; sie hätte sie so gerne ihrer Mutter gezeigt. Noch einmal wollte sie es mit der Bitte um eine Gefälligkeit probieren. „Wenn ich nun heimkomme,“ sagte sie zu Ruth, „dann wollen die Kleinen natürlich gleich das Bilderbuch ansehen und ich habe jetzt keine Zeit, es ihnen zu zeigen. Sei du so gut und komme mit mir herauf und zeige es ihnen; du hast doch ein Viertelstündchen Zeit?“ Es war wohl zu merken, daß Ruth diese Aufforderung gerne abgelehnt hätte, sie mochte aber doch nicht „nein“ sagen, und weil sie auch nicht „ja“ sagte, so blieb die Frage zunächst unerledigt. Da ihr Gretchen aber weder an der Haustüre noch an der Treppentüre die Bücher abnahm, so gab sich’s ganz von selbst, daß Ruth auf einmal mit Gretchen im Wohnzimmer bei Frau Reinwald stand.
„Mutter,“ sagte Gretchen, „dies ist Ruth, sie bringt den Kindern Bücher und zeigt ihnen gleich die Bilder, weil ich nicht Zeit habe.“ Frau Reinwald verstand die vielsagenden Blicke, mit denen Gretchen diese einfache Vorstellung begleitete, und sie sagte ebenso einfach: „Es ist recht von dir, Ruth, daß du zu uns kommst, wir wollen gleich die Kleinen holen.“ Nach kurzer Zeit saß Ruth zwischen den zwei Kindern, die voll Begier waren, das neue Buch zu sehen, während Frau Reinwald und Gretchen sie anscheinend gar nicht beachteten.
Betty richtete gleich beim ersten Bild an Ruth die Frage: „Was ist das?“ und als Ruth eine leise, kurze Antwort darauf gab, sagte Rudi: „Jetzt sag einmal alles ganz laut und deutlich, daß es meine Kleine auch recht versteht: wo fährt der Wagen hin?“ Fragen und Antworten folgten nun ohne Unterbrechung, und je mehr die Kleinen ihre Bewunderung für die schönen Bilder aussprachen, um so wärmer wurden die Erklärungen, und von den dreien schien eines so glücklich wie das andere.
Nach einiger Zeit sagte Frau Reinwald: „Ruth, ich fürchte, deine Eltern machen sich Sorge, wenn du so lange ausbleibst; willst du jetzt heimgehen und ein andermal wiederkommen?“ Aber Rudi und Betty riefen wie aus einem Mund: „O noch nicht, noch nicht, sie soll noch bei uns bleiben!“ Da sah Ruth mit glücklichem Gesicht zu Gretchen hinüber und sagte: „Wenn das Buch aus ist, dann will ich gehen.“
Von diesem Tag an kam Ruth oft nach der Stunde mit Gretchen heim. Bei den lustigen Kleinen vergaß sie ihre Schüchternheit mehr und mehr, sie mischte sich in ihr kindliches Geplauder, und es kam vor, daß sie von selbst an Gretchen das Wort richtete, so daß diese sich vergnügt sagte: „Aus meinem stummen Fischlein ist ein warmes Menschenkindlein geworden!“ Wenn aber die kleine Ruth daheim fragte: „Darf ich zu Reinwalds?“ und wenn ihre Mutter entgegnete: „Schon wieder?“ dann entschied der Forstrat: „Je öfter, je besser!“
Inzwischen war der Tag herangekommen, an dem Pfarrer Kern den „Großen“ Stunden zu geben pflegte. Gretchens erster Gedanke morgens beim Erwachen war: Heute wird unsere Frage wegen der Heimlichkeiten beantwortet; arme Hermine, wie schade, daß du noch krank bist und die Antwort nicht hören kannst!