„Das läßt sich schon einrichten. An den Nachmittagen, wo Sie Ihrer kleinen Schülerin Stunde geben, da kommen Sie eine Viertelstunde vorher in die große Kammer. Fräulein von Zimmern gibt um diese Zeit Unterricht und kann es unmöglich bemerken.“
Mit schwerem Herzen ging Gretchen auf diesen Vorschlag ein. „Und noch eins, mein lieber Engel in der Not,“ sagte Fräulein Geldern zögernd. „Wenn Sie oder Hermine es möglich machen können – o, ich schäme mich zu Tode, es zu sagen – bringen Sie mir etwas Geld, ich muß sonst zu Grunde gehen!“
„Mein ganzes Taschengeld bringe ich Ihnen,“ rief Gretchen, „und Hermine denkt ebenso wie ich, das weiß ich!“
Die beiden schieden voneinander, Gretchen halb beglückt, halb bedrückt. Sie hatte es sich immer als das Schönste gedacht, jemand aus großer Not zu helfen, und gerne hätte sie nun alles, was sie besaß, daran gegeben; aber daß sie es den Eltern nicht sagen durfte und daß sie trotz Fräulein von Zimmerns Verbot wieder heimlich in der Schule mit Fräulein Geldern zusammenkommen sollte, das verdarb ihr die ganze Freude. Sie zählte die Tage bis zu der Stunde, in der ihre Bedenken und Fragen von dem Pfarrer beantwortet würden.
In den nächsten Tagen fehlte Hermine in der Schule, auch sie war krank und man durfte sie nicht besuchen; so mußte Gretchen ganz im stillen tragen, was sie so sehr beschäftigte.
Am Nachmittag ging sie, wie sie versprochen hatte, eine Viertelstunde früher zu Ruths Stunde ins Schulhaus. Als sie an die Klasse kam, in der um diese Zeit Fräulein von Zimmern unterrichtete, schlich sie mit bösem Gewissen an der Türe vorbei, denn was hätte sie sagen sollen, wenn sie zufällig gesehen worden wäre? Oben angelangt, wurde sie für diese peinliche Stimmung entschädigt. Fräulein Geldern erwartete sie in dem um diese Zeit ganz verlassenen Stockwerk. „Meine Getreue,“ rief sie ihr entgegen, „kommen Sie wirklich zu mir; o, wie mir das wohl tut!“
„Ich habe Ihnen etwas mitgebracht, aber Hermine ist leider krank und ich darf nicht zu ihr, sonst wäre es wohl mehr.“ Gretchen wollte ihr Täschchen öffnen.
„Kommen Sie hier herein, daß man uns nicht sieht,“ sagte Fräulein Geldern und ging voran in die Kammer. Dort übergab ihr Gretchen den ganzen Inhalt ihres Sparkäßchens und ein Stück Kaffeekuchen, das sie sich am Mund abgespart hatte.
Fräulein Geldern war nicht wie Ruth, sie kargte nicht mit ihrem Dank, sie war überschwenglich in ihren Ausdrücken, und Gretchen durfte die Wonne empfinden, von einem armen Menschen als rettender Engel gepriesen zu werden. Aber sie wurde aus dieser süßen Empfindung aufgeschreckt, sie glaubte Schritte vor der Kammer zu hören und sah ängstlich nach der Türe.
„Es wird Zeit sein für meine Stunde,“ sagte sie; „wenn mich nur Fräulein von Zimmern nicht aus dieser Kammer herauskommen sieht!“
„Warten Sie noch ein wenig,“ riet Fräulein Geldern; „ich höre jemand die Treppe heraufkommen!“ Gespannt lauschten die beiden. O wie fremd war Gretchen diese Angst, die von einem bösen Gewissen kommt! Fräulein Geldern sah sie mitleidig an. „Törichtes Kind,“ flüsterte sie, „Sie tun ja nur Gutes, haben Sie doch auch den Mut dazu!“ Aber Gretchen, die sonst so Tapfere, hatte hier keinen Mut. Mit Herzklopfen horchte sie. Draußen wurde eine Türe aufgemacht – dann wieder geschlossen und jetzt war es still. „Nun gehen Sie rasch,“ sagte Fräulein Geldern, „ich bleibe noch einen Augenblick, damit man uns nicht beisammen sieht.“ Leise öffnete sie die Kammertüre, Gretchen schlüpfte hinaus und eilte die Treppe hinunter bis vor die Türe des Klassenzimmers, in dem sie Ruth die Stunden gab. Die Klasse war noch besetzt und Gretchen mußte vor der Türe warten. Ein paar Minuten später huschte Fräulein Geldern an ihr vorbei und flüsterte ihr im Vorübergehen zu: „Auf Wiedersehen, mein Engel!“