Aber kaum war er fort, so bereute sie es. Ihr hatte die Tante die Kinder ans Herz gelegt, nicht Rieke; sie durfte nicht gegen ihr besseres Wissen handeln, lieber sollten Oskar und Rieke auf sie zürnen und sie wegen ihrer Ängstlichkeit verlachen. Flink sprang sie die Treppe hinunter, sie wollte ihn einholen auf der Straße, er konnte noch nicht weit sein. Nein, weit war er allerdings nicht! Da saß er auf der untersten Stufe der Treppe. „Oskar, was ist dir?“ fragte Gretchen.
„Ich weiß nicht, es ist mir schwindelig geworden, aber jetzt ist es mir schon wieder besser,“ sagte er und schickte sich an, fortzugehen.
„Du bist ja ganz blaß,“ sagte Gretchen und faßte ihn mütterlich an der Hand. „Komm du nur wieder mit mir herauf, gib mir deine schwere Schultasche, ich trage sie dir.“
Und Oskar widerstrebte nicht mehr, er ließ sich ganz willig hinaufführen. Droben wurden vor allem Rudi und Betty aus dem Wege geschafft und Oskar ins Bett gelegt, so sehr auch Rieke diese Maßregeln als unnötig mißbilligte. Eine Stunde später kam der Arzt und zwei Stunden später brachte man dem armen, geplagten Mütterlein zu ihrem ersten Scharlachkranken noch einen zweiten! Herr van der Bolten trug ihn die Treppe hinauf – zum erstenmal kam er bei dieser Veranlassung wieder zu seiner Frau und zu Hugo. Während ihm Gretchen mit Tränen der Teilnahme nachsah, kam die Treppe herauf ein Dienstmann. Er brachte einen Zettel und auf diesem stand, daß die Kinderfrau in dieser Nacht an einer Lungenentzündung erkrankt sei und in den nächsten Wochen nicht kommen könne!
In sprachloser Bestürzung stand Gretchen vor der Türe und starrte auf das Papier. Dann ging sie zu Rieke; sie hatte ja sonst niemand, mit dem sie die Hiobspost besprechen konnte.
„So ist’s recht!“ rief in aufloderndem Zorn die Köchin. „Das gibt ein Weihnachtsfest! Jetzt darf ich auch noch zu allem hin die Kindsmagd sein und kann keinen Schritt zum Haus hinaus in den Feiertagen! Es kommt immer besser!“
„Rieke, wir müssen jemand finden, der statt der Kinderfrau kommt; wissen Sie gar niemand? Ich mag die Tante gar nicht fragen, die dauert mich so!“
„Es hat auch keinen Wert, sie zu fragen; vor Neujahr bekommt man niemand, jetzt vollends nicht, wo so viel Kranke in der Stadt sind. Unsere Näherin ist krank, die Wäscherin hat kranke Kinder; es ist schon so, an mir bleibt alles hängen.“
Ein weinendes Kinderstimmchen drang an Gretchens Ohr; rasch ging sie ins Zimmer. Betty saß ganz allein mit der Puppe im Arm im Eckchen und weinte.
„Was gibt’s, kleine Maus, warum weinst du?“ fragte Gretchen.
„Ich bin so ganz allein,“ klagte schluchzend die Kleine.
„Wo ist denn dein Rudi?“
„Der ist krank und liegt im Bett!“
„Auch der?“ rief Gretchen und eilte entsetzt an Rudis Bettchen. Er war bis über den Kopf zugedeckt. Sachte zog Gretchen die Decke weg. Da kam ein Gesichtchen zum Vorschein, so frisch und lustig, wie man sich’s nur wünschen konnte, und unter lautem Lachen rief der kleine Schelm: „Ich spiele ja nur Scharlach!“
Nachdem Gretchen den kleinen Schlingel aus dem Bett getrieben hatte, erzählte sie den Kindern, daß die Kinderfrau krank sei und nicht kommen könne. Bei Betty flossen die kaum versiegten Tränen wieder.