„Oskar, Oskar,“ rief sie flehend, „komm herunter, ich bitte dich!“ Er aber schwang die Arme, wie um den Sprung zu wagen, es war ein schrecklicher Anblick. Gretchen war ans Fenster gesprungen, aber sie wußte wohl, daß sie ihn nicht festhalten konnte. „Oskar, tu das deinen Eltern nicht an, komm herein, o komm, ich bitte dich!“
„Sagst du dem Vater nichts?“ rief Oskar.
„Nein, komm nur, komm!“
„Und der Mutter, und Rieke, und den Kleinen?“
„Nein, nein, komm doch herein, ich kann’s nicht mehr sehen!“
„Erst versprich mir’s ganz fest!“ Und Gretchen versprach’s, denn dem unbändigen Knaben war alles zuzutrauen. Jetzt endlich verließ er seinen gefährlichen Posten, nahm seine Schultasche und ging aus dem Zimmer.
Als Gretchen, noch ganz erschüttert von der Aufregung, ihm kurz darauf folgte, fand sie ihn ganz ruhig am Tisch sitzend und von dem Heft abschreibend, das zu verdecken er nicht mehr für nötig fand. Sie war entrüstet, daß sie das mit ansehen und dulden sollte, aber sie fühlte sich gebunden durch das Versprechen, das Oskar ihr abgenötigt hatte, und ihre Macht über ihn war verloren.
Von diesem Erlebnis an begann Gretchen sich im stillen heimzusehnen und die Tage zu zählen bis zum Weihnachtsfest. Es waren nicht mehr viele. Schon hatte die Kinderfrau, die für diese Zeit bestellt war, ihren Koffer geschickt, den Gretchen als willkommenes Unterpfand ihrer baldigen Ablösung oft mit verborgener Freude betrachtete. In der Zeit, die sie noch vor sich hatte, wollte sie ihr Möglichstes tun für ihre Pflegebefohlenen. Sie half Rieke so gut sie nur konnte bei den Vorbereitungen aufs Fest, die freilich aufs allernötigste beschränkt werden mußten. Sie setzte sich im Wohnzimmer hinter den Ofenschirm, nähte Kleidchen für Bettys Puppen und sang dabei unverdrossen mit den Kleinen Weihnachtslieder. Vom Hof zum Kammerfenster hinauf und herunter gab es manche Beratung zwischen Tante und Nichte, denn so sehr erstere durch die Krankheit ihres Ältesten in Anspruch genommen war, so wollte sie doch nicht, daß die Kinder ganz um die Weihnachtsfeier kämen.
Auf einen Samstag fiel der heilige Abend, am Freitagmorgen sollte die Kinderfrau kommen, und am selben Nachmittag wollte Gretchen abreisen. Nun war es Donnerstag. „Nur noch ein Tag,“ sagte sich Gretchen, und packte schon einiges in ihr Handköfferchen, weil sie es gar nicht mehr recht erwarten konnte. „Nur noch ein Tag,“ wiederholte sie sich, „und den will ich noch recht ausnützen.“ Sie überlegte sich alles, was etwa noch zu tun war; Rieke hatte den Christbaum besorgt. Gretchen holte noch Nüsse, Äpfel und Zuckerstückchen, und legte alles ordentlich zusammen, daß es ihr onkel nur auf den Baum zu hängen brauchte. Am Abend, als sie die Kleine zu Bett legte, war es ihr halb freudig und halb wehmütig, als sie sich sagte: „zum letztenmal!“ denn die Kinder waren rührend anhänglich an sie geworden.
Am Freitagmorgen, nach dem Frühstück, als Herr van der Bolten eben ausgegangen war und Oskar sich in die Schule richtete, fiel es Gretchen auf, daß sein Frühstücksbrot noch unberührt war.
„Nimm dein Brot mit, wenn du es jetzt nicht essen willst,“ sagte Gretchen.
„Ich mag nichts, es tut mir beim Schlucken weh,“ war die Antwort. Gretchen sah ihn an; er hatte nicht das frische, lebhafte Aussehen, das man an ihm gewöhnt war. Gretchens erster Gedanke war: „er wird krank, er bekommt Scharlach!“ Es war naßkaltes Wetter, sie wollte ihn nicht in die Schule lassen, wollte den Arzt abfassen, wenn er hinaufginge zu Hugo. Aber Oskar hatte keine Lust, daheim zu bleiben, und Rieke, die zu Rate gezogen wurde, fand nichts Auffallendes an ihm. Sie hatte auch nicht Zeit, ihn jetzt in der Schule zu entschuldigen, und erklärte Gretchens Sorge für übertrieben. So überstimmt, ließ Gretchen Oskar zur Schule gehen.