Der Weihnachtsmonat brachte den „Großen“ angenehme Überraschungen in der Schule. Fräulein von Zimmern erklärte, daß im Dezember nicht nur in der Handarbeitsstunde Weihnachtsarbeiten gemacht werden dürften, sie gestattete, die Weihnachtsarbeiten mit in die Literaturstunde zu bringen. Was waren das für reizende Stunden, wenn man häkelnd, stickend oder strickend um den grünen Tisch saß und Fräulein von Zimmern, die die Literaturstunden selbst gab, dabei „Hermann und Dorothea“ vorlas. Eine andere Überraschung war die Verkündigung, daß die Mädchen, zur Hilfe der vielbeschäftigten Mütter, schon von Mitte Dezember an Weihnachtsferien bekommen sollten. Sie fühlten sich recht als große Töchter bei dieser Eröffnung, und da ihnen Fräulein von Zimmern zur Pflicht machte, sich auch nach Kräften zu Hause nützlich zu machen, so kamen sie alle mit wahrem Tatendurst am 14. Dezember von der letzten Schulstunde heim.
In großen Familien, wie bei Hermine Braun, gab es auch alle Hände voll zu tun, mehr als in kleinen, stillen Haushaltungen, wie die der Familie Reinwald, und doch sollte gerade Gretchen diesmal vielleicht mehr als alle andern zu tun bekommen. Ahnungslos, daß irgend etwas Besonderes bevorstehe, saß sie noch am 15. mit den Eltern am Mittagstisch; ohne großes Interesse sah sie den Brief, den Franziska ihrer Mutter übergab und den die Mutter ruhig während des Essens beiseite legte mit der Bemerkung: „Vorgestern hat die Tante erst meinen Brief erhalten und heute antwortet sie schon.“ Nach Tisch ging Gretchen nach ihrer Gewohnheit in die Küche und Speisekammer, denn es war ihr übertragen, die Reste des Mittagessens aufzubewahren und den Kaffee herauszugeben. Sie war noch damit beschäftigt, als die Mutter sie hereinrief. Der Vater hielt den Brief in der Hand.
„Gretchen,“ sagte die Mutter, „der Brief der Tante geht dich am meisten an. Er enthält keine gute Nachrichten. In N. ist eine böse Scharlachepidemie ausgebrochen, und die Tante schreibt sehr besorgt, da von ihren vier Kindern noch keines diese Krankheit hatte, und nun Hugo, der älteste, davon ergriffen ist. Sie hat sich mit diesem ihrem Patienten ins Gaststübchen im obern Stock gebettet, damit die andern Kinder nicht angesteckt werden, und pflegt den Kranken. Im untern Stock bei dem onkel und den drei Kleinen ist nun bloß das Küchenmädchen, und die Kinder sind recht viel allein. Da ich nun zufällig der Tante geschrieben habe, daß ihr schon von heute an Ferien habt, so fragt sie an, ob du nicht auf eine Woche zu ihren drei gesunden Kindern kommen könntest? Von Weihnachten an hofft sie eine Aushilfe für längere Zeit zu bekommen.“
Gespannt hatte Gretchen zugehört; es war ihr wohl anzusehen, daß sie schon während des Berichts erraten hatte, wie derselbe schließen würde; und nun fragte sie, wie man um die Erfüllung eines großen Wunsches bittet: „Darf ich hin?“
„Du möchtest also gerne?“ frug der Vater dagegen.
„Natürlich möchte ich, Vater; noch gar nie ist ja so etwas an mich gekommen, und ich habe es mir ja längst gewünscht!“
„Gar so angenehm wird das nicht sein, mit den Kindern wirst du deine Not haben, der onkel ist nicht viel daheim und die Tante ist im obern Stock.“
„O, das macht gar nichts, dann schließen sie sich besser an mich an; Mutter, gelt, es wird gehen?“
„Ich meine, es muß gehen,“ sprach die Mutter, „wenn die Tante sich so in der Not an uns wendet. Sie bekommt nicht so leicht eine Hilfe, wenn man hört, daß Scharlach im Hause ist; viele Mädchen fürchten die Ansteckung, du aber hast die Krankheit erst vor zwei Jahren durchgemacht und bist wohl sicher davor. Sieh, ich meine, der Vater zieht schon den Fahrplan aus der Tasche.“
„Ja wirklich,“ rief Gretchen sehr erfreut; „Mutter, nimm mir’s nicht übel, wenn ich mich so über den Scharlach freue; es tut mir ja schrecklich leid für Hugo und für die Tante, aber für mich ist’s herrlich!“
„Nun, dann kannst du ja die Reise als Weihnachtsgeschenk betrachten, wenn du etwa nicht zum heiligen Abend hierher zurückkommst,“ meinte der Vater.
„Doch, zum heiligen Abend kommt sie!“