„Dieses beglückende Gefühl der berechtigten Selbstachtung möchte ich euch allen wünschen. Ihr sollt es euch auch erkämpfen und ich hoffe und erwarte das von euch, meine Schülerinnen. Aber meine Fragestellerin wird noch nicht von meiner Antwort befriedigt sein, denn sie will nicht nur wissen, ob das Romanlesen für euer Alter ein Unrecht ist. Es wird ja für euch bald die Zeit kommen, wo ihr nicht mehr als Kinder einfach den Eltern folgen dürft, sondern wo ihr selbst wissen müßt, was gut oder nicht gut ist, und so will ich euch auch über diesen Punkt sagen, wie ich denke. Es ist ein sehr großer Unterschied zwischen den Büchern, die wir Romane heißen, es gibt schlechte und gute. Aber wie ihr leicht erfahren könnt, ob ein Mensch für euch ein guter oder schlechter Umgang ist, so könnt ihr auch erfahren, wes Geistes Kind das Buch ist, das ihr lesen wollt, und darnach entscheidet euch. Ein schlechtes Buch in die Hand zu nehmen, müßt ihr euch schämen, es ist eurer unwürdig, ihr begebt euch damit in schlechte Gesellschaft und werdet durch sie heruntergezogen. Einen guten Roman könnt ihr im reifen Alter getrost in die Hand nehmen, er wird euch edlen Genuß bereiten, und euch Leben und Menschen kennen lehren. Zwischen den guten und schlechten liegt aber die große Masse der mittelmäßigen Ware, und ich möchte euch ans Herz legen, von dieser recht wenig Gebrauch zu machen. Diese leichte Lektüre verdirbt euch den Geschmack für gute, gehaltvolle Bücher, an denen sich Geist und Gemüt erfreuen kann. Wenn ihr solch ein gutes Buch lest, ich will sagen die Lebensbeschreibung eines bedeutenden Menschen, ein gutes geschichtliches Werk oder dergleichen, so seid ihr nachher mehr, als ihr vorher wart; es ist euch für manches, das euch fremd war, das Verständnis aufgegangen und ihr fühlt selbst, daß ihr eure Zeit zur eigenen Vervollkommnung ausgenützt habt. Solch ein Buch kann man auch zu rechter Zeit wieder aus der Hand legen, während der Roman oft so etwas Spannendes hat, daß schon große Selbstüberwindung dazu gehört, nie länger darin zu lesen, als Zeit und Umstände gerade erlauben. Übt diese Selbstüberwindung schon jetzt an euren oft recht fesselnden Jugend-Erzählungen. Wenn ihr euch sagen müßt: ich habe jetzt nur eine halbe Stunde Zeit zu lesen und nicht mehr, so schlagt auch das Buch an der spannendsten Stelle zu, wenn diese halbe Stunde vorbei ist. Unterbricht euch jemand, fordert die Mutter einen kleinen Dienst von euch, so laßt euch nicht anmerken, wie unwillkommen die Störung ist; fort mit dem Buch, her mit der Arbeit! – Diese gute Selbstzucht wird euch in späteren Jahren zu statten kommen. In diesen kleinen Dingen muß sich bei euch, meinen Schülerinnen, der christliche Geist bewähren; wenn er euch recht erfüllt, so wird er immer und überall aus den kleinsten Handlungen eures Lebens hervorleuchten.“
Am Schluß dieser Stunde gab es noch etwas zu schreiben. Der Pfarrer hatte sich eine ganze Reihe Titel notiert von Büchern, die er seinen Schülerinnen für die nächsten Lebensjahre empfehlen wollte, und einige Bemerkungen über deren Inhalt, Größe usw. Dies alles diktierte er nun seinen Schülerinnen.
Als er sich heute wieder für einen Monat verabschiedete, sagte er: „Wollt ihr so taktvoll sein, wie eure Vorsteherin ist, so forscht nie nach der Fragestellerin, denn wenn sie genannt sein wollte, würde sie sich wohl von selbst nennen.“
Sie nannte sich nicht und blieb unbekannt.