Bei diesen Worten erhob sich Fräulein von Zimmern leise von ihrem Platz und ging der Türe zu. Als sie an dem Pfarrer vorbeikam, sagte sie: „Wer kann wissen, ob die Fragestellerin nicht gerechnet hat, mit Ihnen und den Freundinnen allein zu sein? Ich will die Traulichkeit dieser Stunden nicht stören,“ und sie verließ das Zimmer.
„Ich glaube, wir hätten unsern Gegenstand ebensowohl in Gegenwart von Fräulein von Zimmern besprechen können,“ sprach der Pfarrer, „aber ihr habt ein schönes Beispiel von Zartgefühl und feinem Takt gesehen.“
Er nahm nun aus seinem Buch ein Blättchen Papier, und sprach, indem er hineinsah: „Die Frage, die mir gestellt wurde, lautet: ‚Wir haben viele Romane, die ich gerne lesen möchte, aber jemand hat mir gesagt, es sei eine Sünde, Romane zu lesen. Ist das wohl wahr?‘ Darauf möchte ich nun zuerst sagen: Ich muß annehmen, daß meine Fragestellerin vierzehn oder fünfzehn Jahre alt ist. In diesem Alter ist die erste Regel: Willst du ein Buch lesen, so frage die Eltern um Erlaubnis. Wollen diese es nicht gestatten, so wäre es dir Sünde, das Buch zu lesen, wie jeder Ungehorsam Sünde ist. Und sie werden dir’s wohl nicht gestatten, denn Romane sind für Erwachsene geschrieben und passen deshalb nicht für Mädchen eures Alters. Es ist aber oft sehr schwer und fordert viel Selbstüberwindung, etwas nicht zu lesen, was verlockend scheint. Ich kann mich da an ein Beispiel aus meiner eigenen Jugendzeit lebhaft erinnern, das ich euch nun erzählen möchte: Die Zeitung, die täglich in unser Haus kam, brachte in jeder Nummer einen Abschnitt aus einem Roman. Die Eltern hatten uns Kindern gelegentlich das Blatt weggenommen, wenn sie bemerkten, daß unser Blick auf diesen Teil der Zeitung fiel und darauf haftete, und so wußte ich eigentlich schon, daß die Erzählung nicht für uns war. Einmal aber las ich ganz gedankenlos einige Sätze in dem neben mir liegenden Blatt. Was ich las, kam mir sehr interessant vor, und ich las und las immer eifriger; da plötzlich, als die Sache am spannendsten war, hieß es: ‚Fortsetzung folgt‘, und die Erzählung war unterbrochen. Ich mußte mich immer besinnen, wie es wohl weitergehen werde, und überlegte, wie ich am nächsten Tag wieder Gelegenheit finden könnte, die Fortsetzung zu lesen. Den ganzen nächsten Tag war ich begierig darauf. Abends, als die ganze Familie am Tisch saß und ich meine Aufgaben machte, sah ich, wie die Mutter die Zeitung, nachdem sie ein wenig darin geblättert hatte, neben sich legte. Unvermerkt zog ich das Blatt näher zu mir her und blickte hinein. Aber der Vater bemerkte es und sagte zur Mutter: ‚Laß doch die Zeitung nicht auf dem Tisch liegen; ich will nicht, daß die Kinder darin lesen.‘ Die Mutter aber erwiderte: ‚Das wissen die Kinder, und deshalb werden sie’s auch nicht tun.‘ Doch legte sie die Zeitung beiseite. Ich gab die Geschichte schon für verloren, denn am frühen Morgen wurde das Blatt von einem Mitleser abgeholt. Da geschah etwas, das mir ganz merkwürdig vorkam: die Zeitung wurde am nächsten Morgen nicht abgeholt, und meine Mutter trug gerade mir auf, sie dem Mitleser nach der Schule ins Haus zu bringen. So bekam ich das Blatt in die Hände und hatte Zeit und Gelegenheit genug, die Fortsetzung meiner spannenden Geschichte zu lesen. Aber nun will ich euch’s kurz sagen: Ich las sie nicht. Es kam mir in den Sinn, wie die Mutter so vertrauensvoll gesagt hatte: ‚Die Kinder wissen, daß sie’s nicht lesen sollen, und darum tun sie’s nicht.‘ Es kostete mich einen furchtbar schweren Kampf, aber ich las nicht, und ich kann euch sagen: nachdem ich das Blatt abgegeben hatte, stürmte ich mit einem wahren Siegesgefühl heim. Ich hatte eine ganz andere Meinung von mir, eine Selbstachtung, die mir vorher ganz fremd gewesen war, und wenn in der Folge die Zeitung mit ihrer verlockenden Geschichte neben mir lag, hatte ich für sie nur einen verächtlichen Blick, wie für einen überwundenen Feind, und ich dachte: Du kriegst mich nicht daran.