„Sie sind Gretchen Reinwald?“ rief der Forstrat mit ganz verändertem, heiterem Ton. „Dann sind Sie das Mädchen, das umsonst meiner Kleinen seit einem Vierteljahr nachhilft? Dann sind Sie die Heldin, die die Schlangen fängt, von der meine Kleine alle Tage schwärmt? Die sind Sie?“
Gretchen lachte.
„Alle Wetter, das ist ganz was anderes! Dann tut mir’s leid, daß ich Sie so hart angelassen habe,“ sagte der Forstrat und schüttelte Gretchen herzlich die Hand. „Ihnen verzeihe ich gerne, wenn Sie einmal ungeduldig geworden sind! Wegen einer Unfreundlichkeit werde ich doch nicht die viele Freundlichkeit vergessen, die Sie meinem Kind schon erwiesen haben! Sie hängt mit ihrem ganzen Herzchen an Ihnen, sie hat es Ihnen gewiß schon oft gesagt.“
„O nein, Herr Forstrat, sie sagt eben gar so wenig, und das hat mich heute auch so in Verzweiflung gebracht; sie war so stumm, kein Wort konnte ich aus ihr herausbringen.“
„Ja, ja,“ sagte der Forstrat in ganz bestimmtem Ton, „so ist das Kind, herzensgut, aber ängstlich. Das können Sie natürlich nicht begreifen, aber Sie sind auch bei andern Eltern aufgewachsen.“
„Kennen Sie meine Eltern?“
„Nein, aber ich weiß es doch. Wer so herzhaft zu einem fremden Mann aufs Zimmer kommt, und sagt: Ich hab’s getan und bitte um Verzeihung, der ist anders geleitet worden, als mein armes, schüchternes Dinglein! Es ist vieles bei uns nicht so, wie es sein sollte – doch ich kann darüber mit Ihnen noch nicht sprechen. Sie sind noch zu jung, aber,“ fügte er sehr freundlich hinzu, „doch schon so groß, daß ich Sie zu Ihrem Schaden für Ruths Klassenlehrerin gehalten habe.“
„Darf ich Fräulein von Zimmern sagen, daß Sie nicht böse auf sie sind, weil sie doch so gar nichts dafür kann?“
„Tausend noch einmal, das ist jetzt eine dumme Geschichte,“ rief der Forstrat. „An Fräulein von Zimmern habe ich gleich im ersten Zorn geschrieben, und der Brief ist schon fort!“
„Vielleicht liegt er doch noch dort?“ fragte Gretchen und deutete auf den Pult, denn sie hatte wohl bemerkt, daß der junge Schreiber vor seinem Weggehen die Postsachen mitnehmen wollte, wozu ihm der Forstrat nicht Zeit gelassen hatte.
„Wirklich, ja, da sind sie,“ rief er vergnügt, „da will ich nur den gleich beiseite schaffen,“ und Gretchen beobachtete mit innigem Vergnügen, wie ein an Fräulein von Zimmern adressiertes Schreiben zerrissen und in den Ofen geworfen wurde. Sie sah mit strahlendem Gesicht zu, und der Forstrat, als er sich unvermutet nach ihr umwandte und ihr vergnügtes Gesicht sah, lachte und rief: „Das freut jetzt das Gretchen Reinwald, nicht wahr? Nun ist die Sache wieder gut.“
„Ja, wenn es nur ganz gewiß der Kleinen nicht geschadet hat,“ sagte Gretchen; „Fräulein von Zimmern hat mir so angst gemacht!“
„Darüber machen Sie sich keine Sorgen; Nasenbluten bekommt meine kleine Ruth oft und Ohrfeigen manchmal. Nein, darüber brauchen Sie sich nicht zu beunruhigen.“
Gretchen ging, vom Forstrat aufs freundlichste verabschiedet. Als sie vor der Kanzleitüre war, kam eben die Frau Forstrat die Treppe herunter. Sobald sie bemerkte, daß Gretchen aus der Kanzlei kam, rief sie in förmlicher Bestürzung: „Um aller Heiligen willen, Fräulein, wo kommen denn Sie her?“ Und mit heller, fröhlicher Stimme ertönte die Antwort: „Vom Herrn Forstrat!“ und nicht wie eine Lehrerin, sondern recht wie ein Schulkind, das nach langem Zwang der Freiheit wieder zueilt, sprang Gretchen die Treppe hinunter und fröhlichen Laufes heim, heim zu den lieben, treubesorgten Eltern.