Lene entgegnete nichts mehr, und Frau Reinwald ging ins Nachbarhaus hinauf bis in den obersten Stock und klopfte an dem Stübchen, das nach dem Nachbarhof hinausging. Sie klopfte zwei-, dreimal, ohne Antwort zu erhalten, und öffnete schließlich die Türe. Am Fenster weit hinausgelehnt stand die alte Frau. Sie hatte das Klopfen nicht gehört. Jetzt aber spürte sie die Zugluft, wandte sich um und ging etwas hinkend ihrem Besuch entgegen. Sie begrüßte Frau Reinwald mit Namen, denn sie kannte sie vom Sehen. Frau Reinwald setzte sich zu ihr und erkundigte sich freundlich nach dem Gichtleiden der alten Frau. Sie hatte damit das rechte Thema getroffen, denn es tat der Frau sichtlich wohl, einem teilnehmenden Herzen ihre Schmerzen zu klagen. Frau Reinwald überlegte sich eben im Stillen, wie sie nun das Gespräch auf Lene bringen könne, da gab ihr die Alte selbst die Gelegenheit. „Beim Stehen und Gehen tut mir’s weh, aber auch das Sitzen ist nichts für meine alten Knochen. Die Holzstühle sind hart und kalt und tun einem besonders weh, wenn man einen Lehnstuhl gewöhnt war, wie ich; es war freilich nur ein alter, aber so warm und so weich.“
„Warum haben Sie den nicht mehr?“
„Er gehört nicht mir, er gehört dem Kutscher; der setzt sich ja nie hinein und braucht ihn nicht, er gäbe ihn mir für die paar Jahre, die ich noch lebe, aber sie nicht!“
„Hat sie Ihnen die Bitte abgeschlagen?“
„Ich bitte nichts von ihr, das ist eine stolze Person, die sich für etwas Besseres hält – aber ich will nichts gegen sie sagen, ich weiß ja, Frau Reinwald halten große Stücke auf die Lene.“
„Sagen Sie nur gegen die Lene alles, was Sie auf dem Herzen haben, es tut Ihnen wohl, wenn Sie sich einmal offen aussprechen, und ich weiß wohl, daß Lene auch ihre Fehler hat.“
Wie vorhin der base, so ging’s nun Lene schlecht, auch an ihr wurde kein gutes Haar gelassen; was ihr aber mit der größten Erbitterung vorgeworfen wurde, das war, daß sie geizig und hochmütig sei.
Frau Reinwald hatte ganz ruhig den Strom der Mitteilungen über sich ergehen lassen. Nun hielt die Frau erschöpft inne und sah gespannt auf ihre stille Zuhörerin. Sie erwartete wohl, daß nun Lene entschuldigt und ihr selbst Vorwürfe gemacht würden, denn sie hatte doch Lene gegenüber kein ganz gutes Gewissen. Aber es kam nichts von all dem.
Frau Reinwald sagte freundlich: „Die Hauptsache ist jetzt, daß Sie Ihren warmen Stuhl bekommen. Wenn ihn Lene selbst herüber bringt, ist’s Ihnen dann recht?“
„Die? die trägt so einer armen, alten Person wie ich keinen Stuhl nach.“
„Und wenn sie’s tut, geben Sie ihr dann ein gutes Wort?“
„Die tut’s nicht.“
„Und Sie wollen kein gutes Wort geben, das merke ich schon,“ sagte Frau Reinwald, „aber Sie sind doch alt und krank und möchten gewiß Frieden machen mit Gott und den Menschen oder nicht?“
Die Alte blieb die Antwort schuldig.