„Das ist Ruth Holland, deine Schülerin; Ruth, sieh, das ist Fräulein Reinwald.“
Gretchen war ganz betroffen, sich so vorgestellt zu hören; aus dem Munde der Vorsteherin lautete das „Fräulein Reinwald“ gar zu ungewohnt.
Fräulein von Zimmern zeigte nun Gretchen, wo Ruth, die erst seit kurzem angefangen hatte, Französisch zu lernen, in ihrem Lehrbuch stand. Gretchen sollte zuerst die kleine schriftliche Arbeit korrigieren und die gelernten Wörter überhören, dann die neue Lektion durchgehen. Ein heller Platz in der vordersten Bank wurde für die kleine Schülerin bestimmt und dann wies Fräulein von Zimmern auf einen Sessel, den sich Gretchen vor den Platz der Kleinen stellen sollte. Gretchen wagte eine Einsprache.
„Ich säße viel lieber neben ihr auf der Bank, es ist viel traulicher; darf ich?“
„Die niedrige Bank ist für dich unbequem, doch magst du das einrichten, wie du willst.“
Im Nu saß Gretchen neben Ruth, schlang den Arm wieder um sie, während sie mit der andern Hand das Heft nahm, in dem eine Übersetzung zu korrigieren war. „La mère“ hießen die ersten Worte und auf „mère“ fehlte der Akzent; eifrig bemühte sich nun die junge Lehrerin, ihrer Schülerin zu erklären, warum dies kleine Zeichen nicht fehlen dürfe. Sie beachtete nicht mehr die Gegenwart von Fräulein von Zimmern, sie war viel zu sehr bei der Sache, und so bemerkte sie auch den wohlwollenden Blick nicht, den die Vorsteherin auf die kleine Gruppe warf, ehe sie nach einer Weile das Zimmer verließ.
Die halbe Stunde erschien Gretchen fast zu kurz, sie hätte in ihrem Eifer gerne noch weiter gemacht, aber sie dachte an ihr Versprechen und machte pünktlich Schluß. Sie half der Kleinen, ihr Jäckchen anzuziehen, freute sich an dem zierlichen Gestältchen und fing an, mit Ruth zu plaudern. Aber die Unterhaltung blieb ganz einseitig, und sobald das Kind fertig war, huschte es mit kaum hörbarem Gruß zur Türe hinaus. „Jetzt ist sie natürlich noch schüchtern, aber in der nächsten Stunde wird sie schon zutraulich werden,“ sagte sich Gretchen, während sie das Schulzimmer hinter sich abschloß, das ihr, still und unbelebt, wie es um diese Zeit war, fast fremd erschien.
Sie schlug nicht den Heimweg ein, es zog sie unwiderstehlich zu Lene, sie mußte einmal nach ihr sehen. In einem kleinen Gäßchen der Altstadt wohnte der Kutscher Bauer, ein sehr zuverlässiger Mann, den Lene in früheren Jahren oft für Herrn Reinwald zu Ausfahrten bestellt hatte. Gretchen war kurz nach Lenes Heirat schon einmal dagewesen, um ein Hochzeitsgeschenk zu überbringen. So war ihr die Wohnung nicht unbekannt. Man mußte an dem Vorderhaus vorbei durch einen Hof in das Hintergebäude gehen. Dort war der Pferdestall und die Wagenremise und daneben die kleine Parterrewohnung, die der Kutscher bewohnte. Gretchen klopfte an der Zimmertüre, und als niemand „herein“ rief und sie doch von innen Gepolter hörte, klopfte sie noch lauter. Da wurde die Türe aufgerissen und sie stand einem etwa zwölfjährigen Knaben gegenüber, der sie anredete: „Wollen Sie zum Kutscher?“ Gretchen wußte sofort, daß das einer der drei wilden Buben war; sie sah auch, daß ein zweiter mitten auf dem Tisch stand, sah, daß dieser Tisch tadellos weiß gefegt war und daß der Bub, der darauf stand, schmutzige Stiefel hatte. In einem Augenblick hatte sie das alles bemerkt; jetzt antwortete sie auf die Frage des Großen: „Ich möchte zu Lene, zu Frau Bauer.“
„Die ist nicht da.“
„Ist sie ausgegangen? Kommt sie wohl gleich wieder?“