Es wurde in dieser ersten Unterrichtsstunde, die Fräulein von Zimmern selbst gab, nicht so viel gearbeitet wie sonst, aber es war doch keine verlorene Stunde: in all den jungen Herzen war der Wunsch und Wille erweckt worden, sich dankbar zu zeigen durch treue Pflichterfüllung.
Um zehn Uhr wurde Fräulein von Zimmern bei ihren Schülern abgelöst durch Miß Hampton, eine Engländerin, die den Unterricht in ihrer Muttersprache zu erteilen hatte. Ehe die Vorsteherin das Klassenzimmer verließ, sagte sie zu Gretchen: „Komme um zwölf Uhr einen Augenblick in mein Zimmer, ich habe etwas mit dir zu besprechen.“ Gretchen hätte gerne gefragt: „was denn?“; sie konnte sich durchaus nicht vorstellen, was es sein konnte; ja sie gestattete sich auch während der englischen Stunde mit Hermine darüber zu beraten, da ohnehin keine musterhafte Stille am grünen Tisch herrschte. Die junge Engländerin, die heute ihre erste Stunde erteilte, verstand es noch nicht so recht, in der Klasse Ruhe zu halten. So erlaubten sich die Mädchen unter die englische Konversation auch deutsches Geplauder zu mischen, und Miß Hampton verließ nach der ersten Stunde entmutigt das Schulzimmer in dem Gefühl, daß sie sich, trotz ihrer guten Kenntnisse, der Aufgabe nicht gewachsen gezeigt habe.
Auf die englische Stunde sollte nach dem neuen Stundenplan ein französisches Diktat folgen; aber anstatt Fräulein Bertrand, die dieses Fach zu geben hatte, erschien zur großen Überraschung der Mädchen eine andere Gestalt. Es war Pfarrer Kern, der Pfarrer, der den Mädchen schon von der ersten Klasse an Religionsunterricht gegeben hatte, von dem auch die meisten Schülerinnen dieses Instituts konfirmiert wurden, und der bei ihnen allen nur „unser Pfarrer“ hieß. Auf dem Stundenplan für dieses Jahr stand aber keine Unterrichtsstunde von ihm, und deshalb sahen ihn fünfzehn Augenpaare erstaunt an bei seinem Eintritt. Der Pfarrer bemerkte es wohl, er begrüßte seine Schülerinnen freundlich und sagte dann:
„Ihr seht mich alle verwundert an, ja in Gretchen Reinwalds Augen lese ich ganz deutlich die Frage, die sie mir als kleines Mädchen schon einmal gestellt hat: „Was will der Mann?“ Diese stumme Frage will ich euch gleich beantworten. Fräulein von Zimmern ist der Meinung, daß alle Monate einmal eine der regelmäßigen Stunden ausfallen könnte zu Gunsten einer Stunde, die ich euch, meinen alten Schülerinnen, widmen würde. Wenn ich mich nicht irre, so sind wir so gute Freunde, daß wir wohl gerne einmal monatlich zusammenkommen und eine Stunde miteinander zubringen. Was meint ihr?“
Die freudige Zustimmung, die von allen Seiten erfolgte, kam den Mädchen aus dem Herzen, denn es war auch nicht eine unter ihnen, die lieber französisches Diktat gehabt hätte, als eine Stunde bei ihrem Pfarrer. Dieser setzte sich nun zu seinen Schülerinnen oben an den grünen Tisch, und blickte befriedigt über die auch ihm ganz neue Schulstube.
„Unsere ganze Umgebung ist eine andere als bisher,“ sagte er, „und ebenso wird auch unser Unterricht ein anderer sein. Was uns vorgeschrieben war – euch zu lernen und mir zu lehren – das haben wir erfüllt, und für euch gilt es nun, das Gelernte auch ins Leben zu übertragen. Darüber, wie das geschehen kann, möchte ich in diesem letzten Schuljahr zu euch heranwachsenden Mädchen reden. Von eurer Arbeit wollen wir reden, von euren Vergnügungen; von euren Beziehungen zu den Eltern und Geschwistern, zu den Freundinnen, zu den Dienstboten; kurz von allem, was ich denke, daß euer Leben ausfüllt, oder von dem, was ihr gerne besprochen haben möchtet. Hat im Lauf des Jahres eine von euch den Wunsch, diese oder jene Frage auszusprechen, so mag sie es jederzeit tun, sei es nun mündlich oder schriftlich, auf einem Blättchen, das ihr mir zuschicken könnt, mit oder ohne Namensunterschrift. Es ist eine alte Erfahrung, daß die Menschen sich oft scheuen, das auszusprechen, was ihre Seele am tiefsten bewegt. Mich wird es freuen, wenn ihr diese Scheu überwindet und mir manchmal Stoff gebt zur Besprechung solcher Fragen, die euch beschäftigen. In der heutigen Stunde wollen wir miteinander darüber reden, was euch dies letzte Schuljahr bietet und was es von euch fordert, und dazu möchte ich nun euern neuen Stundenplan sehen.“
Die Schülerinnen von Fräulein von Zimmern mußten sich immer schon am Schluß eines Schuljahrs den Stundenplan für das kommende Jahr schreiben, und wer die schönste Handschrift besaß, hatte die Pflicht und das Vorrecht, ihn auf ein größeres Formular einzutragen, das hübsch verziert im Schulzimmer hing. Ottilie von Lilienkron hatte in diesem Jahr den Plan geschrieben, sie brachte ihn nun herbei. Der Pfarrer nahm ihn zur Hand und saß bald in traulichem Gespräch mit seinen Schülerinnen. Diese merkten es wohl kaum, daß sie auch in dieser Stunde lernten, und doch übte der zwanglose Unterricht guten Einfluß aus. Indem der Pfarrer von der englischen Stunde sprach, wußte er die Herzen der Mädchen für die fremde, junge Lehrerin zu gewinnen, so daß sie sich im stillen vornahmen, ihr künftig nicht, wie sie es heute getan hatten, ihren Beruf noch schwerer zu machen.