„Ich kann nichts dafür, das alte Ding hält nicht mehr, der Nagel fällt aus dem Loch. Helft mir doch!“ Hermine Braun kam zu Hilfe. Der Federkasten mußte als Hammer dienen, der Nagel wurde wieder eingeklopft. „So, jetzt hält es notdürftig,“ sagte Hermine befriedigt.
„Ja,“ entgegnete Ottilie, „für einen Tag vielleicht, dann fällt’s wieder herunter. Dies Zimmer ist überhaupt das unschönste Schulzimmer von allen, die wir noch gehabt haben.“
„Ja, und so kalt, man hätte schon ein wenig einheizen können.“ Die Neueintretenden stimmten mit ein in diese Klagen, und die ganze junge Gesellschaft war ziemlich mißvergnügter Laune, als sie sich auf den alten Schulbänken niederließen und in dem etwas dunkeln, kühlen Parterrezimmer auf den Anbruch des letzten Schuljahrs warteten.
Es hatte schon neun Uhr geschlagen, und die Mädchen, fünfzehn an der Zahl, waren alle versammelt, als die Türe aufging. In sicherer Erwartung ihrer Lehrerin wollten die Mädchen aufstehen. Gretchen, die immer etwas flinker als andere in ihren Bewegungen war, hatte sich respektvoll erhoben, aber unter der Türe erschien, statt der erwarteten Lehrerin, nur ein niedliches, kleines Mädchen, eine Schülerin der dritten Klasse. Es war Mathilde, die kleine Schwester von Hermine Braun. Errötend richtete das Kind aus: „Fräulein von Zimmern läßt den Großen sagen, sie sollen alle mit mir heraufkommen.“ Merkwürdig schnell waren „die Großen“ bereit, das Lokal zu verlassen und der Kleinen zu folgen, die die Treppe hinauf voranging.
„Was gibt’s wohl? Wohin sollen wir kommen?“ fragten die Mädchen einander, und immer größer wurde ihre Verwunderung, denn sie wurden durch beide Stockwerke hindurchgeführt, in denen sie die früheren Schuljahre zugebracht hatten, bis hinauf in den obersten Stock, den sie bisher nur betreten hatten, wenn sie in der großen Kammer ihre Handarbeiten aufbewahren wollten. Neben dieser Kammer war eine Türe, durch die noch nie eines der Mädchen geschritten war, die Türe selbst schien auch neu zu sein. Die kleine Führerin öffnete sie und rief in das Zimmer hinein: „Da sind jetzt die Großen,“ und dann sprang sie wieder die Treppe hinunter.
In dem freundlichen, von der Sonne beschienenen Gemach, in das die Mädchen nun eintraten, stand Fräulein von Zimmern, eine würdige, ältere Dame mit grauem Haar. Sie ging der Mädchenschar entgegen und sprach freundlich: „Willkommen, meine Großen! Ihr seht euch ganz erstaunt um; nicht wahr, ihr wußtet nicht, daß hier oben ein so großes, helles Zimmer sei. Es steht auch noch nicht lange, ich ließ es erst in diesen Ferien ausbauen und für euch als Klassenzimmer einrichten. Möchtet ihr alle euer letztes Schuljahr recht glücklich darin verleben!“
Ein Ausruf der freudigen Überraschung folgte auf diese freundliche Anrede. Die Mädchen sahen sich die neue Umgebung mit großem Wohlgefallen an. Das Zimmer war wirklich gemütlich eingerichtet: statt der Schulbänke und dem Lehrerpult stand in der Mitte ein langer, grüner Tisch und um denselben herum hübsche Rohrsessel. Wenn man da saß, konnte man sich an einen Familientisch versetzt glauben. Ein großer Strauß von bunten Astern prangte in der Mitte und fünfzehn kleine, duftende Resedensträußchen bezeichneten den Schülerinnen ihre Plätze. Die Fenster waren mit Vorhängen geschmückt und zwischen diesen hindurch sah man weit hin über die Häuser und Gärten der Stadt bis hinaus in die freie Landschaft.
Das war ein anderes Lokal als das düstere Parterrezimmer! Die Freude der Mädchen kam lebhaft zum Ausdruck, aber für den Dank wollten sich nicht so leicht die Worte finden. Gretchen hatte schon manchmal bei solchen Gelegenheiten die Sprecherin machen müssen, und als sie eben an eines der Fenster trat, sich des ungewohnten Fernblicks zu erfreuen, kamen einige der Freundinnen zu ihr und bedeuteten ihr durch leichte Rippenstöße, daß man ihrer bedürfe. Sie hatte kaum erfaßt, was von ihr erwartet wurde, als sie auch schon bei Fräulein von Zimmern stand und mit dem Ruf: „Wir danken Ihnen für diese wunderschöne Überraschung!“ auch den andern die Zunge löste.
Nie sehen die Menschen so strahlend aus den Augen, als wenn sie andern eine Freude bereiten, und so lag auch in den Zügen der Vorsteherin in diesem Augenblick ein solch herzgewinnender Ausdruck, daß die Mädchen, die von klein an nur mit ehrfurchtsvoller Scheu der gestrengen Lehrerin genaht waren, sich traulich um sie scharten und in fröhlichem Geplauder ihre Freude aussprachen.