„Heute beginnt also dein letztes Schuljahr?“ fragte Herr Reinwald seine Tochter, die eben zum Ausgang gerichtet ins Zimmer trat.
„Ja, aber erst um neun Uhr,“ antwortete Gretchen und setzte sich noch einmal zu den Eltern an den Frühstückstisch. „Ich bin eigentlich viel zu früh daran!“
„Du siehst ja ganz anders aus, als sich’s für ein Schulmädel gehört, hast keine Schürze an, keine Tafel in der Hand und gehst in einem Schleppkleid!“
Gretchen und ihre Mutter lachten. „Das lange Kleid ist dir noch ungewohnt an unserem Kind,“ sagte Frau Reinwald, „sie ist nun eben kein ‚Schulmädel‘ mehr, sondern eine Fortbildungsschülerin.“ „Ja, Vater, du mußt auch ein wenig Respekt haben vor mir, ich bin fast schon so groß wie die Mutter; bitte, Mutter, steh einmal auf, der Vater glaubt es sonst nicht.“
Da standen sie nebeneinander, die Mutter zart und schmächtig, mit schlichtem, braunem Haar, die Tochter rosig und blühend, mit blonden, hoch aufgesteckten Zöpfen; und es war schwer zu sagen, welche von beiden größer war. Aber Herr Reinwald besann sich nicht. „Das beruht alles auf Täuschung,“ sagte er, „deine Zöpfe sind nur so prahlerisch aufgebaut. Die Mutter ist doch größer, und sie bleibt’s auch.“ Da lachte Gretchen und rief: „Ich weiß schon, wie du’s meinst, Vater. Die Mutter bleibt freilich größer,“ und mit stürmischer Zärtlichkeit umarmte sie die Mutter. Herr Reinwald verabschiedete sich nun, um seinem Beruf nachzugehen, und auch Gretchen machte sich fertig.
„Rufe im Vorbeigehen Lene, daß sie das Frühstück abräume,“ sagte Frau Reinwald.
„Lene? Ja, wenn nur unsre gute Lene noch draußen wäre!“ antwortete Gretchen; „ich mag gar nicht mehr in die Küche, seitdem so ein fremdes Wesen darin haust!“
„Ich glaube es wohl, daß dir deine Lene fehlt, die bei uns war, solang du zurückdenken kannst; aber Franziska scheint mir auch ein tüchtiges Mädchen zu sein.“
„Ich schicke sie dir herein,“ sagte Gretchen, „und jetzt leb wohl, Mutter.“
„Viel Glück zum letzten Schuljahr!“
„Danke, ich bin furchtbar neugierig, wie es in der Oberklasse wird!“
Eilig ging nun Gretchen in den kühlen Herbstmorgen hinaus, der Schule zu. Ihr Weg führte sie durch lange, belebte Straßen. Schon seit ihrem ersten Schuljahr, in dem Herr Reinwald als Regierungsrat in die Residenz versetzt worden war, besuchte Gretchen das Institut von Fräulein von Zimmern. Von Klasse zu Klasse war sie aufgestiegen, und nun stand sie vor der letzten. Die schöne Feier der Konfirmation lag eben hinter ihr, Herz und Sinn des jungen Mädchens waren noch bewegt von den tiefen Eindrücken dieser Zeit; heute aber, auf dem gewohnten Schulweg, überkam sie das Gefühl, daß nun alles wieder in das werktägliche Geleise übergehe, und die festtäglichen Empfindungen wichen einer nüchternen Stimmung.
Ähnlich ging es wohl auch ihren Altersgenossinnen. Manche derselben waren schon im Frühjahr konfirmiert worden, die meisten aber, wie auch Gretchen, erst im Herbst, und so wanderten sie heute zum ersten Male als konfirmierte Mädchen wieder dem Institut von Fräulein von Zimmern zu. Sie begrüßten sich als alte Kamerädinnen, freundschaftlicher oder kühler, je nachdem sie einander näher oder ferner standen; aber ein Paar fand sich mit besonderer Herzlichkeit zusammen und stand Seite an Seite, als könnte es gar nicht anders sein: das war Gretchen Reinwald und Hermine Braun, zwei Freundinnen, die seit dem ersten Schuljahr treu zusammen gehalten hatten und von den andern fast wie Schwestern angesehen wurden. Doch waren sie einander äußerlich nicht ähnlich. Hermine war kleiner als Gretchen, hatte ein schmales, blasses Gesichtchen, aber eines, das man gern ansah, denn es sprach eine große Herzensgüte aus den sanften Zügen. Mit den beiden zugleich trat Ottilie von Lilienkron in das Schulhaus, und die drei gingen im untern Stockwerk des Hauses auf eine Zimmertüre zu, die die Aufschrift „Oberklasse“ trug.
Als sie eintraten, fanden sie schon mehrere Mädchen versammelt. Eine derselben bemühte sich eben, einen Kleiderrechen, der sich von der Wand losgemacht hatte, wieder zu befestigen. Es war Elise Schönlein, eine wenig begabte Schülerin. Ottilie redete sie spöttisch an: „Ist das deine erste Leistung in der Oberklasse, daß du den Kleiderrechen von der Wand reißst?“