Durch die Straßen einer großen Stadt wallte eine majestätische, dicht verhüllte Gestalt. Sie war zum ersten Male zur Erde gekommen, sah zum ersten Male eine Ansiedlung der Menschen und irrte planlos auf der unbekannten Stätte umher. Plötzlich machte sie Halt vor einem Palaste, über dessen mächtigem Portal eine marmorne Statue sich erhob. Das Bildwerk stellte eine Frau in griechischer Gewandung vor. Ihre Augen waren verbunden, in der Rechten hielt sie eine Wage. Eine Inschrift auf dem Sockel der Statue hatte die Aufmerksamkeit der Fremden erweckt. Sie sah abwechselnd deren goldene Lettern und das steinerne Gebilde an, und je länger sie es that, je mehr wuchs ihr Staunen.
Ein Mann, der athemlos daher gerannt kam, riß sie aus ihren Betrachtungen. Es war ein Beamter, der sich verspätet hatte, und der nun die Stufen zum Palaste schleunigst hinaneilen wollte.
Die Fremde hielt, ihn zurück. »Westen Bildniß ist dieses?« fragte sie und deutete nach der Statue auf dem Portal.
Den Beamten durchfröstelte es. Die Stimme, mit welcher die Verhüllte gesprochen, klang unsagbar hart und schauerlich und war mit keiner Stimme zu vergleichen, die jemals an sein Ohr getönt hatte. Er vergaß die vorgerückte Stunde; seine Angst vor der Strenge seines Hofraths war verschwunden. Stehenbleibend starrte er die Geheimnißvolle an und antwortete: »Es ist das Bildniß der Gerechtigkeit.«
Ein Lachen erscholl, das ihm das Blut in den Adern gefrieren machte; doch fuhr er fort: »Unter ihrem Zeichen wird hier gewaltet.«
»Von wem? — Wohnen Götter in diesem Hause?«
Der Beamte dachte an seine Vorgesetzten und an seine Collegen, und mußte lächeln: »Nur Menschen,« erwiderte er.
»Wie?« rief die Fremde, »Menschen walten im Namen Einer, die auf Erden nie war und nie sein wird? Menschen, blinde, irrende, üben das Amt der Allsehenden und Unfehlbaren?«
Wieder erklang das gräßliche Lachen. Durch den Schleier der Verhüllten hindurch drang der Strahl eines Feuerauges, vor dem der arme Beamte wie vom Blitz getroffen niederstürzte.