Sterbenskrank lag der kleine Carl auf dem Bettchen. Die Nachtlampe brannte auf dem Tische, viel heißer aber brannte das Fieber in den Adern des Knaben. Dunkelrothe Rosen hatte es auf seine Stirn und auf seine Wangen gesäet, seine Lippen bewegten sich dürstend und das treue Auge war so todesmatt.
Die zitternden Händchen faltend saß er im Bett und flehte: »Abba, lieber Vater, laß mich noch nicht sterben!« Denn Carl war ein frommes Kind und der Arzt hatte ja zu seiner Mutter gesagt, er werde in dieser Nacht sein Auge für immer zumachen und sie nicht mehr sehen.
In der Ecke des Zimmers kniete die Mutter mit verweinten Augen, sie hatte drei Tage und drei Nächte hindurch für ihn geweint und jetzt war der Schlummer tröstend in ihr Auge getreten und hatte ihre müde Stirn auf den Sessel gebettet, an dem sie niedergekniet war.
Die Nachtlampe flackerte zuweilen so matt auf, als wollte sie sagen: »Lieber Carl, wollen wir nicht zusammen einschlafen?« Carl aber faltete noch immer seine Hände und betete sein frommes Abba. Das hatte die Nachtlampe ihn alle Abende beten gesehen und wenn er dann eingeschlafen war, pflegte auch sie bald ihr helles Auge zu schließen. Freilich wußte sie nicht, daß der Arzt gesagt hatte, sie würden sich heute zum letzten Male gemeinschaftlich zur Ruhe begeben.
Auf Carls Bette lag ein Bild, das hatte ihm einst die sterbende Großmutter geschenkt. Es war das betende Kind, das Ihr wohl kennt, und unter das Bild hatte die Großmutter zum Andenken geschrieben:
»Abba, lieber Vater,
Mach mich gut, mach mich fromm,
Daß ich in den Himmel komm'!«
Ueber dem betenden Kinde in der schönen Randverzierung aber saßen ein paar liebliche Engel, die sah Carl immer so gern und die Großmutter hatte ihm versprechen müssen, daß er auch ein solcher Engel werden solle.
Auf diesen beiden Engeln ruhte heute Carls mattes Auge, während er betete, er hatte sie ja so gern, und es wäre ihm schon recht gewesen, zu sterben, wenn er nur die beiden Engel und die gute Mutter hätte mitnehmen können. Da erlosch die Nachtlampe, denn sie glaubte, Carl sei schon eingeschlafen, weil er so still war.
Aber das Bild auf Carls Bette verklärte sich jetzt mit einem Male in wunderbarem Glanz, es leuchtete wie tausendfacher sanfter Lampenschimmer und aus der Randverzierung traten leibhaftig die beiden Engel heraus. Die wuchsen vor seinem Blick, ihre Flügel wurden größer, ihr Gewand wurde zum Sternenkleide, ihre Augen nahmen einen überirdischen Glanz an.
So stellten sich die Engel zu beiden Seiten von Carls Bette, legten ihre Hände auf seinen fieberheißen Arm und schauten ihn so freundlich an, wie es nur die Engel thun können.
Carl erschrak anfangs, aber er erkannte ja seine Engel und streichelte ihnen mit den Händchen die Wangen.
– Ist es wohl wahr, daß ich sterben soll? fragte er. Wollt Ihr mich zur Großmutter in den Himmel holen?... Ach ja! Laßt mich mit Euch gehen, aber laßt mich mein Mütterchen mitnehmen, denn sonst kann ich nicht froh sein in Eurem Himmel!
– Nein, Du sollst noch nicht mit uns kommen, antwortete der eine Engel; aber dereinst werden wir uns wieder sehen, und dann gehst Du mit uns.
Hierauf erhoben sich Beide und bestiegen eine goldene Leiter, die wie ein großer Sonnenstrahl in die Luft führte. Carl sah, wie sie immer höher stiegen, bis die Wolken sich hinter ihnen schlossen.
Trauernd sah Carl sie droben verschwinden; eine heiße Thräne trat in sein Auge. Plötzlich aber klatschte er sich freudig in die Hände, denn die Wolken theilten sich wieder und die Engel kehrten zurück. Sie trugen auch Etwas in den Händen, das sah aus wie ein wunderschönes Schreibebuch, so schön wie er noch nie eins gesehen.
Und die Engel kehrten auf der Sonnenstrahl-Leiter zurück und traten wieder an sein Bett. Und der Eine von ihnen zeigte ihm ein Buch, dessen Deckel so purpurroth war, wie der schönste Sammet, und der ein großes goldenes Kreuz trug.
Und der Engel legte das Buch auf Carls Bett und sagte zu ihm:
– Dieses Buch sendet Dir Dein Vater im Himmel; es stehen schöne Worte und eine große Lehre darin, die sollst Du verkünden weit und breit, diesseits und jenseits der Meere, und deshalb sollst Du leben.
– Ach, das schöne, schöne Buch! rief Carl und drückte es an das kleine Herz.
Die Engel aber küßten ihn Beide auf die Stirn.
– Dereinst sehen wir uns wieder! sagten sie und verschwanden.
Viele Jahre waren verstrichen, da lag weit, weit fort in China ein Mann auf dem Sterbebette.
Sein Haar war noch nicht ergraut, seine Kraft war groß, sein Wort mächtig gewesen. Tausend und abertausend Meilen war er gewandert und hatte das Wort Gottes unter den Heiden verkündet. Er hatte viel Ungemach und Leiden ertragen, aber viele Tausende hatte er zum Christenthume bekehrt, die glaubten jetzt an den Gekreuzigten und zerschlugen die Götzen, zu denen sie in ihrer Blindheit gebetet.
Er selbst aber lag auf dem Sterbebette; keine Verwandte, kein Vater, keine Mutter, keine Gattin, keine Kinder standen an seinem Schmerzenslager; er aber war getrost, denn er sollte ja zu seinem Vater zurückkehren.
Und seine Hand ruhte auf einem rothen Buche mit einem goldenen Kreuz, darin stand mit vielen Millionen Buchstaben ein einziges Wort geschrieben: das Wort Gottes.
Und als es Abend wurde, da betete er noch einmal, denn sein Auge wollte brechen.
Plötzlich ward es hell im Zimmer wie vom Schein der untergehenden Sonne. Noch einmal schlug er das Auge auf und sah an seinem Bette zwei Engel stehen.
– Als wir Dich vor mehr denn vierzig Jahren sahen, begann der Eine, da versprachen wir Dir, Du sollest uns wiedersehen. Wir sind gekommen, um Dich mit uns zu nehmen, denn Du hast genug gethan. Du sollst ausruhen und vor das Antlitz Dessen treten, den Du verkündet hast.
Die Engel legten ihre Hand auf sein Auge und das Buch auf seine Brust. Sie ließen seinen Leib ruhen und führten seine Seele hinüber auf derselben Leiter, auf welcher sie ihm einst erschienen waren.
Die Welt hieß ihn Carl Gützlaff, der Vater im Himmel aber nannte ihn seinen treuesten Sohn.