Man fängt nicht immer einen seltenen Vogel, und nach sehr ereignisreichen Tagen kommen mitunter recht stille Stunden. Dies merkte Traumfriede so recht am Tage nach seinem glücklichen Fange. Er saß wieder am Buchberg und war ein bißchen unruhig und erwartungsvoll, weil er dachte, irgend etwas oder irgend jemand müßte kommen. Aber kein Papagei, kein Waldhüter, keine fröhlichen Schulkameraden ließen sich sehen, ja selbst die Sonne kam den ganzen Tag nicht zum Vorschein. Früh war es trübe gewesen, und am Nachmittag war es immer noch grau und trübe, es regnete nicht, der Wind wehte auch nicht, und alle Vögel, Eichhörnchen und Häslein, und was sonst einmal an Friede vorbeigehuscht war, blieben ebenfalls unsichtbar. Alles in allem war es eigentlich etwas langweilig. Zum ersten Male fand es Friede recht still und einsam, und schließlich nahm er sich seine Bücher vor und begann seine Ferienarbeit ins Unreine zu schreiben.
Um die gleiche Zeit wanderte Muhme Lenelies nach Seite 196Schloß Friedheim. Am Morgen, bald nach Friedes Weggang, war Leberecht Sperling bei der alten Frau gewesen und hatte ihr gesagt, sie möchte doch einmal zur Frau Gräfin kommen. Warum, das sagte der Waldhüter nicht, das war ihm zu beschwerlich, er war schon wieder draußen, ehe sich die Muhme von ihrem Erstaunen erholt hatte. „Na, ist recht,“ dachte diese, „werd's schon erfahren.“ Sie versorgte noch ihre Ziege Friederike, brachte ihr Häusel in Ordnung und trat dann ihren Weg an.
Muhme Lenelies war eine schlichte, bescheidene Frau, gehörte aber nicht zu den Menschen, die vor einem, der reicher und höher gestellt ist, gleich allen Freimut verlieren. „Jedem die Ehre, die ihm gebührt, aber nicht vergessen, daß wir Menschen vor unserm Herrgott alle gleich sind,“ pflegte sie wohl zu sagen. Unter allerlei guten, freundlichen Gedanken verging der Muhme der Weg rasch, und bald lag das Schloß vor ihr. Sie fragte höflich und bescheiden nach der Frau Gräfin, und ein Diener führte sie gleich in ein hohes, schönes Zimmer.
In einem blanken Messingkäfig saß nun wieder gefangen der Papagei. Als der die fremde Frau erblickte, schlug er mit den Flügeln und rief recht unhöflich: „Schafskopp, Schafskopp!“
Seite 197„Na,“ sagte Muhme Lenelies ganz ruhig, „ich dächte, du wärst eher einer. Wozu brauchst du denn auszureißen?“
„Das stimmt,“ sagte lachend jemand hinter der Muhme. Es war die Gräfin selbst, die leise eingetreten war. Freundlich reichte sie der alten Bauernfrau die Hand, und dann saß Muhme Lenelies, sie wußte selbst nicht wie, auf einmal auf einem wunderschönen, weichen Samtstuhl und erzählte vergnügt, als müßte es so sein, von ihrem Friede. Sie erzählte, wie der Bube zu ihr gekommen war, und wie lieb, brav und fleißig er sei, und weil die Frau Gräfin so aufmerksam zuhörte, erzählte sie auch von dem Wintertag, an dem der Bube im Schneesturm den weiten, weiten Weg gelaufen war, um ihr die Medizin zu holen.
Ganz still hörte die Gräfin zu, dann fragte sie noch allerlei, auch, was der Friede wohl einmal werden wollte. „Du meine Güte,“ sagte Muhme Lenelies bescheiden, „was soll er werden! Ein rechtschaffener Arbeiter hoffentlich. Freilich, freilich, so'ne Buben die haben immer mächtig große Rosinen im Kopf. Da ist der Heine Peterle, der sagt, er möchte mal General werden, und Schnipfelbauers Fritz, dem die Unnützigkeit schon aus den Jackenärmeln herausguckt, meint, zu einem Doktor würde er's schon bringen.“