Wer in Oberheudorf eine Reise tun wollte, der mußte erst zwei oder drei Stunden laufen, je nachdem er lange oder kurze, flinke oder müde Beine hatte, um die Bahnstation zu erreichen. Die Erwachsenen fanden das beschwerlich, aber die Kinder entrüsteten sich darüber, als wäre ihnen das Eisenbahnfahren so notwendig wie das liebe Brot. Da hieß es nun auf einmal: Die Eisenbahn kommt! Ganz dicht an Oberheudorf sollte sie vorbeifahren, ja Oberheudorf sollte sogar Bahnstation werden. So sagten sie in Oberheudorf, in Niederheudorf sagten sie wieder, sie bekämen die Station. Um diese Zeit war es, daß einmal etliche Oberheudorfer Buben und Mädel mit ein paar Niederheudorfer Kindern beim Erdbeerpflücken im Kuhberger Walde zusammentrafen. „Wir kriegen die Bahn!“ schrie ein langer Niederheudorfer Bube, als er kaum die Oberheudorfer erblickt hatte, und seine Genossen stimmten ihm zu: „Ja, wir kriegen die Bahn!“
Seite 165„Nä, wir kriegen sie,“ schrie Schulzens Jakob patzig; er als Schulzensohn mußte es doch wissen.
„Ja, drei Meilen am Mund vorbei,“ höhnten die Niederheudorfer, und die Oberheudorfer gaben keck zurück: „Wir sind Ober, ihr seid Nieder, und Ober kommt allemal zuerst.“
„Pah, ihr! So 'n kleines Dorf! Nicht mal 'n richtiges Vogelschießen habt ihr,“ trumpften die Niederheudorfer auf, und die von Oberheudorf spotteten: „Wir haben Grafens und ihr nicht, und wir haben 'n Theater gehabt und ihr nicht, etsch!“
Der Streit wäre wohl noch eine Weile hin und her gegangen, und wer weiß, ob es nicht zu einer Prügelei gekommen wäre, aber Leberecht Sperling, der Waldhüter, erschien in der Ferne, da liefen die Oberheudorfer geschwind links, die Niederheudorfer rechts, und nur von weitem noch brüllten sie sich gegenseitig zu: „Wir kriegen sie!“ – „Nä, wir!“
Daheim erzählten dann die Oberheudorfer Buben und Mädel, wie frech die Niederheudorfer gewesen wären, und diese erzählten das gleiche von den Oberheudorfern. Die Erwachsenen nahmen Partei: jedes Dorf wollte gern die Bahn, jedes Dorf hielt sich für berechtigt, jedes meinte, besonders gut zur Bahnstation zu passen, und es dauerte nicht lange, da standen sich Seite 166die beiden Dörfer wie Hund und Katze gegenüber. „Kriegen wir die Bahn?“ das war die Frage, die in dieser Zeit die Alten und die Jungen, die Großen und die Kleinen beschäftigte. Standen zwei auf der Dorfstraße zusammen, dann redeten sie über die Bahn, die Kinder sprachen sogar davon in der Schule, und der Herr Lehrer sagte mitunter seufzend zu seiner Frau: „Ich wollte, die Bahn führe schon am Dorf vorbei und nicht immer meinen Schulkindern im Kopf herum.“
Sämtliche Buben und Mädel hatten schon die wunderbarsten Reisegedanken, und die Sparbüchsen hatten es in dieser Zeit gut, sie durften so tüchtig Pfennige schlucken, daß sie ganz fett wurden. Es war Mode unter den Buben und Mädeln, Reisegeld zu sammeln, und wer einen Pfennig oder gar einen Fünfer in seine Sparbüchse tun konnte, der krähte wie ein Hähnlein bei Sonnenaufgang. Auch bei den Erwachsenen fing beinahe jedes Gespräch mit den Worten an: „Wenn wir erst die Bahn haben!“