Etliche Tage, nachdem Muhme Lenelies die Geschichte von der schönen Liebelinde erzählt hatte, saß Annchen Amsee am Brunnen und nähte. Es war wieder schönes Wetter geworden. Ein bißchen kalt war es zwar, aber das kümmerte Annchen nicht weiter, sie nähte mit vielem Eifer an ihrem Röckchen und war rot und heiß dabei geworden. Annchen Amsee war ganz fleißig in der Schule, war flink mit den Beinchen und noch flinker mit dem Zünglein, aber Nähen, Stricken, Sticken und Stopfen wollte und wollte ihr nicht gelingen. In der Handarbeitsstunde war sie die schlechteste Schülerin, und es gab Ermahnungen und Strafen ohne Ende. Seit Muhme Lenelies aber von der geschickten Flickerin erzählte hatte, war in Annchen der Wunsch erwacht, auch so fleißig und geschickt zu werden, um dann vielleicht einen Prinzen zum Mann zu bekommen. So saß sie denn am Freitag nachmittag und stopfte. Natürlich hatte sie gerade ein Loch im Kleid, sie hatte sich auch geschwind etliche Haare ausgerissen und versuchte damit ihr Heil. Es ging aber nicht so einfach, Seite 153immer wieder rissen die Haare, und das Loch war wie ein großes hungriges Maul, das sich nicht schließen will, selbst beim größten Butterbrot nicht. Neben der Kleinen standen zwei Mägde, Mine aus der „Himmelblauen Ente“, die gekommen war, Wasser zu holen, und Amsees Laura, die wusch Eier am Brunnen ab. Morgen sollte zum Markt gefahren werden, und Laura meinte, den Städtern müsse man die Eier schön sauber bringen. Ihre Bäuerin fand zwar immer, dies sei eine überflüssige Arbeit, Laura aber ließ nicht gerne davon ab, Oberheudorfs Sauberkeit sollte in der Stadt gerühmt werden. Krämers Trude hatte sich auch eingefunden, und die großen und kleinen Mädel schwatzten gerade eifrig miteinander, als fünf Buben die Dorfstraße entlang kamen. Natürlich blieben sie stehen, und natürlich sahen sie zu, was die Mädel taten. Schnipfelbauers Fritz war es, der zuerst rief: „Annchen stopft, seht doch nur! Nä, sie will wohl 'nen Prinzen heiraten?“
Annchen Amsee wurde rot. Sie neckte sonst gern und ließ sich necken, aber nur nicht mit ihren Nähkünsten. Sie sagte darum sehr schnippisch: „Was geht's euch an? So dumme Buben, wie ihr seid, will ich freilich nicht heiraten.“
„Sie stopft, sie will 'nen Prinzen,“ riefen nun auch die andern Buben höhnend.
Seite 154„Sie kriegt gar keinen, sie muß auch hundert Jahre lernen!“ schrie Heine Peterle.
„Seid doch still, ihr,“ schalt Mine, die gerade fortgehen wollte, und spritzte die Buben. „Haltet den Mund!“ gebot Laura, und auch Trude schalt und fing an zu spritzen; nur Annchen tat, als bemerkte sie die Buben nicht mehr, eifrig stopfte sie weiter.