Wenn Muhme Lenelies den Kindern, die eigentlich alle miteinander ihre Freunde und Freundinnen waren, Märchen erzählte, dann fing sie meist an: „Es war einmal ein König, eine Königin, ein Prinz, eine Prinzessin oder doch wenigstens ein Graf.“ Anders tat es Muhme Lenelies nicht. Die Kinder waren darum ganz unzufrieden, als die Muhme ihnen, als sie an einem regennassen Herbstnachmittag zum Märchenhören kamen, erzählte: „Es war einmal eine Waschfrau!“
„Das ist nicht hübsch!“ rief Annchen Amsee gleich entrüstet, und der blaue Friede sagte: „Mit 'nem König muß es anfangen!“
„Es fängt an, wie es anfängt, und wenn es eine Waschfrau ist, die zuerst kommt, dann ist es eben eine Waschfrau,“ erwiderte Muhme Lenelies freundlich. „Ihr braucht aber nicht zuzuhören. Wer gehen will, Seite 133kann gehen, wer zuhören will, muß den Schnabel halten. Also wer will gehen?“
Niemand wollte das. Die Kinder fanden es wieder einmal ungeheuer gemütlich bei Muhme Lenelies. Draußen floß der Regen in wahren Gießbächen vom Himmel herunter, der Herbststurm zerrte noch die letzten rotgelben Blätter von den Bäumen und brauste dazu: „Gib her, gib her! Mußt alles geben, mußt alles geben!“ An solchen Tagen besannen sich immer etliche Oberheudorfer Buben und Mädel darauf, daß es doch eigentlich wundervoll bei Muhme Lenelies sei, und daß sie mit der alten Frau doch sehr befreundet wären. Im Sommer, wenn die langen Tage schier zu kurz für alle lustigen Freispiele waren, kehrten bei Muhme Lenelies meist nur die Kinder ein, die sich zufällig mal irgend etwas zerrissen hatten; die gute Muhme heilte geschwind die Schäden und nahm es nicht weiter übel, wenn Buben oder Mädel das Wiederkommen nachher ein Weilchen vergaßen. Sie kannte ihre Freunde schon, sie wußte, daß Sturm und Regen und dunkle Wintertage sie ihr wieder zuführten. Muhme Lenelies konnte so viele Märchen erzählen, daß selbst der Herr Lehrer ihr manchmal zuhörte und dann sagte, Muhme Lenelies sei eigentlich eine Dichterin.
Von allen Kindern aber hörte der alten Frau Seite 134niemand lieber zu als ihr Pflegesohn Traumfriede. Der lauschte auch an sonnenhellen Sommertagen gern allein, was seine gute Pflegemutter ihm erzählte. Er war es auch, der an diesem Nachmittag, an dem Muhme Lenelies die Geschichte von der Waschfrau begann, nochmals ärgerlich rief: „Ja, geht doch, wenn ihr nicht zuhören wollt!“