„Ich kann nicht,“ erwiderte der Löwe. „Aber ich bin doch nicht so erbärmlich wie du. Ich bin wenigstens gegen meinen Willen hier — bin in einer Falle gefangen worden. Doch du bist freiwillig in den Dienst des Zweifüßlers gegangen und hast deine Kameraden verraten.“
„Ich weiß nicht, worauf du anspielst,“ sagte[S. 93] der Hund. „Ich weiß von keinem Zweifüßler. Ich diene bei den Menschen. Meine Herrin ist eine vornehme Baronin, und sie stirbt vor Angst, wenn sie mich nicht bald wiederbekommt.“
„Gewiß! Menschen nennt es sich — das verfluchte Geschlecht des Zweifüßlers. Die ganze Erde hat es unterjocht. Es gibt fast keine Stelle mehr, wo ein ehrlicher Löwe seine königliche Jagd ausüben könnte. Ich kenne die ganze Geschichte... sie hat sich in meiner Familie vom Vater auf den Sohn vererbt. Da draußen in der Wüste, wohin wir von den Menschen vertrieben worden sind, hab’ ich alles an dem letzten Abend, bevor ich gefangen genommen wurde, mitangehört. Wie der Zweifüßler und seine Frau nackt und ohne Waffen in den Wald kamen. Wie mein Stammvater sie beschützte. Und wie sie dann nach und nach alle Tiere überlisteten. Nur du gingst freiwillig in ihren Dienst. Die andern wurden eingefangen und gezähmt, und ihre Sinne stumpften in der Gefangenschaft ab, bis sie nicht mehr wie freie Tiere leben konnten, sondern sich in der Sklaverei wohlbefanden. Schließlich tötete der Zweifüßler meinen Stammvater mit seinem Speer. ... Ja ja, ich kenne die schändliche Geschichte von A bis Z.“
„Ich nicht,“ erklärte der Hund. „Ich mache mir auch durchaus nichts daraus, sie kennen zu lernen. Ich weiß nur, daß ich zu Hause bei meiner Herrin einen warmen kleinen Korb habe, und daß ich[S. 94] herrliches Essen und Küsse und Liebkosungen bekomme. Ich will hinaus! Ich will nach Hause!“
Der Löwe antwortete ihm nicht; er hing nur seinen Gedanken nach:
„Wenn ich hier so in meinem Käfig liege, wo ich bald sterben werde vor Sehnsucht und Husten, dann ist es mir wenigstens ein Trost zu sehen, wie elende Geschöpfe die Nachkommen des Zweifüßlers sind. Er war doch aufrecht und schön anzusehen — er war ein Tier! Aber diese Wesen... man kann kaum ein Stückchen von ihrem Körper sehen, so wickeln sie sich in Tücher ein. Der Zweifüßler sprang im Walde umher und kletterte auf die Bäume, er hatte wenigstens den Mut zu kämpfen... Aber die Angst der Menschen ist belustigend, wenn ich aufstehe und zu den Eisenstangen hingehe, oder wenn ich brülle. Sie zittern wie Espenlaub, obwohl sie wissen, daß ich ein elender Gefangener bin.“
Der Löwe erhob sich und näherte sich dem Gitter. Er schlug mit dem Schwanze gegen seine mageren Flanken und öffnete seinen Rachen, indem die Zähne fürchterlich leuchteten. Das Hündchen aber zitterte unter seinem Blick vor Angst.
„Und du?“ rief der Löwe. „Hahaha! Lieber ein gefangener Löwe im Käfig als der arme Schoßhund einer alten Jungfer mit Schellen und Deckchen.“
Und dann stieß er ein so lautes Gebrüll aus, daß im Dorfe alle Leute aus ihren Betten auffuhren. Hierauf legte er sich im Hintergrunde des Käfigs nieder, drehte sich auf die Seite um und schlief ein.