„Es ist ein schlechter Tag gewesen,“ sagte er und sah ärgerlich auf den Löwen. „Du hast im Grunde dein Abendessen durchaus nicht verdient.“
Mit diesen Worten warf er dem Löwen ein kleines, halbverfaultes Stück Fleisch hin. Dann verließ er das Zelt, schloß die Tür sorgfältig ab und ging in die Gastwirtschaft, wo er wohnte. Dort zechte er bis zum hellen Morgen.
Der Löwe aber rührte das verfaulte Fleisch nicht an. Den Kopf auf den Vorderpfoten, lag er da und schaute auf die Tranlampe, die in dem Zelte hing und einen ganz schwachen Lichtschimmer verbreitete. Da hörte er plötzlich einen Laut, hob den Kopf und blickte sich um.
„Soll ich nun nicht einmal in der Nacht Ruhe haben?“ rief er.
„Ich bin es bloß,“ erwiderte eine leise, pfeifende Stimme. „Ich bin aus Versehen hier mit eingeschlossen worden. Ich will hinaus! Ich will hinaus! Meine Herrin stirbt vor Angst um mich.“
Es war ein ganz kleiner Hund mit einem Schellenhalsband und einer gestickten Decke über dem Rücken. Er trippelte und trippelte, pfiff, heulte und[S. 92] kratzte an der Tür, aber niemand hörte ihn. Auf dem Marktplatz draußen war alles still.
„Herrgott!“ rief der Löwe. „Du bist ja der Hund! So viel kann ich sehen. Was für ein Gespenst haben die Menschen aus dir gemacht!“
„Ich will hinaus! Ich will hinaus!“ pfiff der Hund.
Der Löwe hatte den Kopf wieder auf die Vorderpfoten gelegt und betrachtete den Hund.
„Was pfeifst du denn so?“ sagte er. „Es tut dir ja niemand etwas zuleide. Ich könnte dich doch nicht auffressen, selbst wenn ich Lust hätte. Die Eisenstangen sind stark, mußt du wissen. Anfangs hab’ ich daran gerüttelt, aber jetzt tu ich’s nicht mehr. Im Käfig muß ich von Ort zu Ort reisen und mich für Geld sehen lassen, muß mich in den Hohn und die Neckereien der Leute finden, muß ihnen auf Kommando etwas vorbrüllen, damit sie erschaudern, während sie wissen, daß sie in Sicherheit vor meinen Zähnen sind.“