In Prag ist es mit den Studentenmensuren wesentlich anders als auswärts. Inmitten des nationalen Kampfes muß selbst dem krassesten Füchslein der Gedanke aufdämmern, daß das Waffenspiel doch mehr als ein Spiel, daß es Probe und Erziehungsmittel sein soll. Und trotzdem in Prag wohl keinem Studenten Kodex, Komment und Couleurpolitik zum Lebensinhalt werden kann, weil er sich vor ernstere Aufgaben gestellt sieht, wird hier seit Jahrzehnten eifrig gefochten. Dabei aber erschwert der erwachende und bald zur Herrschaft gelangte politische Haß die Zusammenkünfte der deutschen Studenten. Von einem dunklen Schlupfwinkel zum anderen mußten sie ziehen, von einem Ausflugsort zum andern, und wenn sich jemand der Mühe unterzöge, nach den Mensurbüchern der Prager Korporationen eine Liste der Paukböden zusammenzustellen, so würde dies nicht bloß ein vielsagender Beitrag zur Geschichte des Farbenstudententums, sondern auch eine bemerkenswerte Illustration zur politischen und kommunalen Geschichte dieser Stadt sein.
Auf der Bastei, der breiten Umwallung, die von der Karlshofer Kirche zum Korntor, von da zum Roßtor und weiter über das Pořitscher Tor hinaus bis zur Moldau führte, stand einmal das „Café Bohemia“. In der Hibernergasse, die freilich anders aussah, wie heute. Der Staatsbahnhof war dort, wo er heute ist, und stand doch nicht in der Mitte der Stadt, sondern an ihrer Peripherie. Um für seine Einrichtung Raum zu schaffen, hatte ein Stück der Basteimauern fallen müssen. Rings umher aber stand der Wall noch breit und hoch, und an schönen Frühlingstagen konnte man geputzte Bewohner Alt-Prags die Serpentine hinaufstolzieren sehen, die von der Hibernergasse aus auf die Bastei führte. Dort oben stand das „Café Bohemia“, wo man einen guten Kaffee schlürfen und altvorzeitisch große Kipfel dazu essen konnte, und einen endlos weiten Ausblick auf die Wiesen und Felder gegen die Wiener Reichsstraße, auf jenes Gebiet genoß, wo sich heute Žižkow und ein Teil von Weinberge breitet. Vom Kaffeehause aus konnte man dann auf der Steinbrücke über den Bahnhof hinweg längs der Florenzgasse bis zum Pořitscher Tore promenieren. Im ersten Stock des Cafés war ein großer Saal, der manches fröhlich-schlichte Kränzchen und manchen denkwürdigen Kommers sah, wie jenen, der im Feber 1863 den Staatsminister Schmerling in Prag begrüßte.
Hier focht man am Anfang der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts die ersten Mensuren. Nach dem unglückseligen Ausgang des lombardischen Feldzuges versuchte man es in Österreich einmal statt des reaktionären Regimes, das sich so schlecht bewährt hatte, zaghaft mit etwas freiheitlicher Regierungskunst. Vielleicht wollte man die österreichische Bevölkerung, die durch die in Italien erlittenen Verluste und Mißerfolge verbittert war, einigermaßen entschädigen, indem man ihr mehr Bewegungsfreiheit gewährte. Die Studenten, deren Organisationsbestrebungen im Jahre 1849 hinter Kerkermauern begraben worden waren, nützten jetzt den günstigen Wind. Das im Sommer 1859 im Gasthause „Zum Hopfenstock“ an der Ecke der Wasser- und Hopfenstockgasse errichtete „Bierherzogtum Lichtenhain unter Thus I.“ war der Beginn fröhlicher studentischer Vereinigung; die schwarzen Seidenkappen, welche die „Tabularotundisten“ 1860 in ihrem Kneiplokale „Zum Kleeblatt“ (Ecke Teingasse und Fleischmarkt) und bald auch auf der Straße trugen, waren der Anbeginn des Farbentragens. Nicht lange darauf stellten sich die Anfänge des Mensurwesens ein. Bernhard Stall, ein junger frischer Westfale, der in Bonn aktiv gewesen war, wandelte die „Tabula rotunda“ in die Verbindung „Rugia“ um, und die schlug bald mit der „Franconia“ Partien. Kein Lied, kein Heldenbuch meldet die Namen der ersten Kämpen.
Die erste Mensur, über die noch Aufzeichnungen vorhanden sind, ist zwischen den Mitgliedern zweier heute noch bestehenden Burschenschaften am 6. Juni 1861 ausgetragen worden. Zwischen einem Mitglied der „Carolina“, die bislang in einem anderen Basteilokale, im Café Schubert zwischen Roßtor und Korntor (etwa dort, wo heute die Čelakovskyanlagen sind), mit stumpfen Klingen und in Körben gepaukt hatte, und einem Aktiven der „Albia“ auf deren Bude. Die Mensurbücher melden hierüber: „Paukanten: Bursche Artur Liberda (Carolinae) und Bursche Johann Tröger (Albiae); Sekundanten Ernst Hauer (Albiae) und Karl Rösch (Carolinae); Unparteiischer Julius Zuleger (Franko-Arminae). Mensur zweiten Grades. Liberda abgeführt; zwei Nadelstiche.“
Das Lokal, das der Schauplatz dieser Mensur und nachher ungezählter anderer war, war wohl das herrlichste und romantischeste, das man sich denken kann. Es war das in der Karlshofergasse stehende Lustschlößchen „Amerika“, dieses kleine Wunder Kilian Dienzenhoferschen Baukunst. In diesem Gebäude, über dessen Verwendung sich die Stadtgemeinde Prag jetzt den Kopf zerbrochen hat, war in den sechziger und noch in den siebziger Jahren eine freundliche Gastwirtschaft, und der Wirt hatte zwei entzückende Töchter, die ganz vortrefflich in den Rahmen des Lustschlößchens paßten. Hier hatte die „Albia“ ihre Bude, und hier wurde lange geschlagen. Man glaubte wirklich in einen Rittersaal zu festlichem Turnei gekommen zu sein. Und wenn’s einem der Paukanten etwas zaghaft zumute wurde, dann flößte ihm wohl der lächelnd ermunternde Blick der bunten Gestalten neuen Mut ein, die Johann Ferdinand Schors Meisterhand anderthalb Jahrhunderte vorher an die Wand gemalt hatte.
Die technischen Korps „Frankonia“ und „Suevia“ fochten inzwischen in dem Brettergasthaus „Smetanka“ auf den freien Gründen zwischen Žižkow und Weinberge, und die „Austria“ pflegte ihre Waffengänge im einstigen Gasthaus Eggenberg auszutragen, das hinter dem Aujezder Tor auf einer Anhöhe vor dem Kinskygarten stand.
Die Waffe, deren man sich bediente, war eine Prager Erfindung, die unter dem Namen „Prager Waffe“ — im Studentenjargon „Prager Plempe“ — an Deutschlands hohen Schulen als Eigentümlichkeit der Prager Studenten bekannt war. Sie war nicht Säbel, noch Schläger, sondern beides. Der alte ständische Fechtmeister in Prag, Maitre Le Gros, lehrte nämlich nur das Säbelfechten, und so mußte man eine Kombination des Säbels mit dem studentischen Schläger erfinden, und versah den Säbelgriff mit der geraden Schlägerklinge. Siebzehn Jahre focht man mit diesem Unikum. In dem alten Paukbuch des akademischen Korps „Austria“ (Seite 102 und 103) ist über die erste Schlägermensur in Prag folgende Aufzeichnung zu finden: „Anerkennungshatz des akademischen Korps „Moldavia“ (Prag) auf Korbschläger in den D. C.-Verband. Erste Mensuren nach dem Prager Paukkomment auf Korbschläger. — Mensur auf Korbschläger 15 Minuten gefochten am 8. Juni 1877 im Gasthause Eggenberg zwischen Herrn Phil. Kand. Josef Neuwirth, „Austriae“-Prag und „Saxoniae“-Wien (der jetzige Hofrat und Professor der technischen Hochschule in Wien) und Herrn Med. Stud. Rudolf Eckstein, „Moldaviae“-Prag. Als Sekundanten fungierten Jur. Ludwig Stümmer („Moldaviae“) und Med. Karl Renn („Austriae“), als Unparteiischer MUC. Alois Pessina („Austriae“) und als Paukarzt MUC. Karl Zoerkler („Austria“). Die Mensur endete unentschieden. Die erste burschenschaftliche Schlägermensur fand am 2. April 1880 in dem Gasthaus „Zur slawischen Linde“ in der Inselgasse (heute Smetanagasse) statt: Eduard Gerson von der „Alemannia“ focht sie mit dem Prager „Teutonen“ und Wiener „Alben“ Paul von Portheim, der jung verstorben ist und dessen posthume Gedichtsammlung „Silentium“ Bewunderung erweckte.“
Es gibt und gab wenige Gasthäuser im Weichbilde und in der Umgebung Prags, in denen nicht blitzende Schläger die mit Kolophoniumduft und Blutgeruch geschwängerte Luft sausend durchfahren hätten, in denen nicht schallende Eisenhiebe auf Klingen und Körbe gerasselt wären. Eine Zeitlang — so in der Zeit um die Kuchelbader Schlacht — gab es arge Persekutionen. Die Tschechen fanden Lust daran, die „Salamander“ — das war der damalige Ausdruck für das heutige „buršák“ — bei der Polizei zu vernadern, die Polizei witterte wieder in den geheimen Zusammenkünften der Studenten politische Konspirationen. So zogen die wehrhaften Mannen aus den Toren Prags „in die Wüste“ hinaus, und in den vergilbten Mensurbüchern stehen auswärtige Gasthausnamen zu lesen, so „Zum kleinen Prokop“ in Nusle, „Karl IV.“ in Wrschowitz, das „Mäuseloch“ in Straschnitz, „Bellevue“ in Nusle, „Georg von Podiebrad“ in Koschiř, der Pavillon im Paradiesgarten, die „Nusler Mühle“ u. dgl. Aber die Polizei fand alle diese Schlupfwinkel nach und nach heraus, und wenn auch mancher Polizeibeamte bei der Aushebung mit verräterischem Wohlgefallen und verdächtiger Fachkenntnis das Pfeifen der Mensurspeere probierte — was half das, er mußte doch die schönen Waffen konfiszieren. Der Chef des Sicherheitsdepartements hat die Türen des Polizeimuseums mit saisierten Schlägern und Säbeln sehr geschickt dekoriert ...