Meine Tätigkeit als Statist wird von der Kritik in der hartnäckigsten Weise ignoriert. Da ich aber nicht Willens bin, mir gefallen zu lassen, daß meine Zugehörigkeit zur dramatischen Kunst in Böhmen und meine Teilnahme an ihrem Aufschwunge von gehässigen Federn totgeschwiegen wird, so will ich sie selbst hier für die Ewigkeit verzeichnen. Der Beginn meiner Bühnenlaufbahn fällt in das vorige Jahrhundert. Wir gingen als Mittelschüler oft statieren. Erstens war es interessant, das Bühnentreiben aus nächster Nähe zu betrachten, zweitens war es ein einträgliches Vergnügen, da wir das Geld, das wir von den Eltern zum Theaterbesuch bekamen, für uns behalten konnten und drittens gab es immer ein großes Gaudium. Bei der Aufführung der Oper „Die Rosenthalerin“ hatten wir balgende Buben im Jahrmarktsgetümmel zu mimen und prügelten einander dabei in erfreulicher Weise, bis wir Beulen an den Köpfen und wunde Schienbeine hatten. In den „Hugenotten“, in denen wir als Priester und Ministranten auftraten, zogen wir im dritten Akt auf offener Bühne statt in die Kirche in das Wirtshaus.
Mit der Zeit wuchs unsere Bühnenroutine und unsere Courage zu verschiedenen Streichen. Einer von diesen hat der Schlußwirkung eines Theaterstückes starken Eintrag getan. Das war bei der Uraufführung des Gottschallschen Bibeldramas „Rahab“ im Landestheater. Die Regie hatte Gustav Burchard inne, der in irgend einem reichsdeutschen Dialekte die Statisten zu beschimpfen pflegte, weshalb diese stets dazu bereit waren, ihm irgend einen Tort anzutun. Als Darsteller der übrigen Rollen waren Marie Immisch, Mizzi Bardi, Auguste Urfus und Emma Metz und die Herren John, Moissi, Stiewe und Steil tätig. Wir Statisten — Söldner waren wir — hatten während des Stückes nichts zu tun: Nur am Schlusse sollten wir im blutigen Scheine der an allen Ecken angezündeten Stadt die Mauern Jerichos besteigen und, unsere Schwerter und Hellebarden schwingend, dartun, daß jede Gegenwehr der Bürgerschaft vergeblich sei. Natürlich benützten wir die lange Zeit, die uns bis zum Schlusse des Dramas blieb, dazu, um uns in der Handhabung der Hellebarden, Schwerter und Schilde zu üben, bis Regisseur Burchard unseren Tournieren ein jähes Ende bereitete. Schimpfend befahl er uns, alle Waffen hinter einer Kulisse auf einem Haufen niederzulegen. Wir folgten, aber brüteten Rache. Die gelang uns auch. Im letzten Akte machten sich zwei von uns auf, trugen unbemerkt alle Lanzen und Schwerter von dannen und versteckten sie zwischen zwei Kisten in der Nähe des Maschinenraumes. Knapp vor unserem Auftreten rief uns Burchard zusammen und prägte uns ein: Wenn sich der Feuerschein verbreitet habe, mögen wir unsere Waffen holen, sie mächtig aneinanderschlagen, auf den Leitern die „Mauern“ erklimmen und oben unsere Waffen drohend erheben. Als aber die Bärlappsamen entzündet worden waren und wir unsere Waffen holen wollten, fanden wir sie nicht. Burchard fluchte, schimpfte, drohte, schrie, aber das half ihm nichts. Wir mußten wie Diebe auf die Mauern kriechen und stellten uns oben ganz friedlich auf. Das war der Schlußeffekt des Dramas, und die Kritik war am nächsten Tage einmütig in ihrem Urteil: die Bürgerschaft Jerichos hätte sich gegen eine derart schäbige Einnahme ihrer Stadt erfolgreich wehren können.
In der vorigen Woche habe ich nach längerer Pause meine „statistische“ Tätigkeit wieder aufgenommen. Ich debütierte in „Wallensteins Tod“. Auch Kollege Devrient wirkte mit. Wir Statisten hatten Wallensteinsche Soldaten zu spielen. Herr Kristoff, als Garderobier daran kenntlich, daß er in seinen beiden Rockaufschlägen einige hundert Stecknadeln eingesteckt hatte, (Sigmund Lautenburg hat einmal einen Garderobier cäsarisch grollend mit den Worten entlassen: „Geben Sie Ihre Nadeln ab!“) kommandierte, als wir in den Garderobensaal gekommen waren:
„Hosen, Stiefel und Röcke ausziehen, Westen anbehalten.“
Wir bekamen rot-gelb-blau gestreifte Strümpfe, gelbe Schuhe, braunrote Pumphosen mit blauen Bändern am Knie, ein helles Wams, einen Brustlatz aus Blech, einen Ledergürtel mit herabhängenden Patronen, einen Degen und einen grauen Schlapphut. Während wir uns ankleideten, teilte der kleine Herr Rosenzweig, dessen Geschlecht schon seit einem halben Jahrhundert die Komparseriebeistellung für das deutsche Theater besorgt, das Spielhonorar aus: Vierzig Heller per Person. Er selbst bekommt sechzig Heller, die restlichen zwanzig sind sein Gewinn. Ein Statist, der sich neben mir ankleidete, sagte auf Pragerisch zu mir:
„Nicht wahr, das ist nicht dasselbe Stück, wo der Löwe den Wallenstein gespielt hat?“
Ich belehrte meinen Nachbar, indem ich ihm auseinandersetzte, daß „Herbstmanöver“ und „Wallensteins Tod“ Kriegsdramen verschiedenen Charakters seien, und daß der General Wallenstein nicht den gleichen Chargengrad wie der Kadettoffizierstellvertreter Wallerstein bekleide.
Ein anderer Statist zog, bevor er sich auskleidete, einen Gummiknüttel und einen Revolver aus der Tasche und legte die Waffen neben sich auf die Bank.
„Wozu tragen Sie die Waffen mit sich?“, fragte ihn ein anderer.
„Die brauche ich zu meinem Beruf,“ sagt der Befragte.
„Was sind Sie denn?“
„Ich bin Detektiv der Polizeidirektion,“ wirft der Mann so gleichmütig hin, als ob er wirklich das wäre, als was er sich ausgibt. Der Garderobeinspektor des Theaters, Herr Fitzek, wendet sich interessiert an den „Detektiv“ mit der Frage, ob es nicht einen Detektiv Fitzek in Prag gebe. Der angebliche Polizeiagent verneint die Frage. Er habe keinen Kollegen dieses Namens. Herr Fitzek erzählt daraufhin, sein Vater habe ihm einmal in Wien gesagt, daß er in Prag einen onkel bei der Geheimpolizei habe. Der angebliche Detektiv wiederholt apodiktisch, daß er in den fünf Jahren, in denen er Angestellter des k. k. Sicherheitsbureaus sei, nie einen Fitzek kennen gelernt habe. Und dann beginnt er — die Statisten haben sich um den Detektiv geschart — von dem hervorragenden Anteil zu erzählen, den er an der Ausforschung der Kriminalaffären der letzten fünf Jahre hatte. Er gehe oft statieren. Im tschechischen Nationaltheater habe er neulich den gefährlichen Dieb Burian dabei festgenommen, als er aus den Garderoben Portemonnaies stahl. Die Statisten reißen respektvoll die Augen auf, gar als er einen „Rapport“ aus der Tasche zieht, in dem er angibt, daß er gestern mit dem Detektiv Batlička (dies ist tatsächlich der Name eines Geheimpolizisten) eine Streifung unternommen habe. Alles bewundert den Meisterdetektiv, an dem nur die Phantasie bewundernswert ist. Ich kenne alle Geheimpolizisten. Er ist nicht darunter.
Inzwischen ist es sieben Uhr geworden und wir Statisten schleichen auf die Bühne. Wir hören, wie Seni-Mandé und Wallenstein-Devrient astrologische Weisheiten tauschen. Schließlich finden wir auch eine Lücke in der Dekoration, durch die wir auf die Szene schauen können. „Glückseliger Aspekt!“ Wallenstein hat diesen Ausruf getan und die Kulissenschieber nehmen ihn als Stichwort, um uns von unserem Ausguck zu vertreiben. Flüche, in denen sich Prager Bodenständigkeit mit gräßlichen Verwünschungen paart, schleudern sie mit verhaltener Stimme uns, „dem miserablen Komödiantengesindel“, „den verkleideten Affenpintschern“ ins Gesicht. Aber auch unter uns sind Männer von gewandter Rede und sie bleiben den „Wolkenschiebern“ und „Leinwandbaumeistern“ grobe Antwort nicht schuldig. Zwischen Bühnenarbeitern und Figuranten herrscht seit urdenklichen Zeiten Erbfeindschaft und in den ewigen Kämpfen bleiben die Arbeiter immer Sieger. Denn sie sind Angehörige des Theaters, die Komparsen nur Fremde. Und das technische Personale hat im Inspizienten und im Regisseur mächtige Verbündete. Die jagen uns fort. Ich habe aber von allen Komparseriekollegen die größte Sehnsucht, doch etwas von den Vorgängen auf und hinter der Szene zu erhaschen, ich schleiche mich von einer Kulisse zur anderen, von rechts, von der Zauberbude, in der der Oberbeleuchter mit Apparaten und Knöpfen hantiert, bis an die äußerste linke, wo der Vorhangmeister das Steigen und Fallen des Vorhanges regelt, und komme mit dem Regisseur Seipp und sogar mit Heinrich Teweles, dann mit dem vorbeikommenden Theatersekretär Bertholdi und mit mehreren Schauspielern in unsanfte Berührung. Lauter gute Bekannte — keiner erkennt mich. Ein Schauspieler, mit dem ich in der vergangenen Nacht bis viertel 7 Uhr früh Kognaksorten geprobt habe, beschimpft mich, weil ich ihm im Wege stehe. Und eine Schauspielerin, die zwei Tage vorher mit einer öffentlichen Vorlesung meiner Werke Erfolg hatte, schiebt mich höchst unsanft beiseite. Nur Herr Reinhart, der den Buttler gibt und selbst nicht zu erkennen ist, hat mich erkannt:
„Herr Redakteur, wie kommen Sie her?“
Ich bitte ihn um Stillschweigen, er sagt es mir zu, aber ich kann die Folgen dieser Erkennungsszene nicht vermeiden. Ein kleiner Statist, der neben mir steht, hat die Anrede gehört und fragt mich:
„Sie sind ein Redakteur?“
„Ja.“
„Da haben Sie ganz recht, daß Sie sich keinen Sitz kaufen. Was brauchen Sie sich zu drängen! Und schade ums Geld ist es.“ Nach einer Weile fährt er aber fort: „Herr Redakteur, bitte schön, wie können Sie die Szenen kritisieren, die Sie nicht sehen?“
Da rücke ich denn mit der Wahrheit heraus: „Ich schreibe nicht über das Stück, ich schreibe nur über die Statisten.“
„Über die Statisten? Das ist großartig. Da müssen Sie hineinschreiben, daß ich eine prachtvolle Stimme habe. Wenn ich disponiert bin, singe ich elfmal hintereinander das hohe C. Nur habe ich einen Herzfehler und kann mich deshalb nicht zum Sänger ausbilden. Aber als Schauspieler bin ich einmal aufgetreten. In Hirschberg.“
„Was haben Sie da gegeben?“
„Den Okelly in „Maria Stuart“. Keine leichte Rolle. Ich sollte hinter einem Mauerstück auftauchen und den Mortimer warnen. Meinen Text kannte ich glänzend. Einen Souffleur hätte ich gar nicht gebraucht. Aber ich habe Pech gehabt. Der Garderobier hatte mir gesagt, ich brauche mich nur bis zum Gürtel zu kostümieren. Aber als ich mich über das Versatzstück beugte und mit voller Kraft schrie: „Flieht, Mortimer, flieht,“ kippte das Versatzstück um und ich fiel auf die Bühne. Das Publikum lachte wie wahnsinnig, denn ich hatte zu dem roten Wams meine graukarrierten Straßenhosen an und die Hosenträger hingen herunter. Der Direktor war wütend. Und bei der nächsten „Maria Stuart“ mußte ich wieder im Volk stehen und „Rhabarber“ murmeln. Seit der Zeit bin ich nicht mehr als Solist aufgetreten. Der Garderobier in Hirschberg ist schuld daran. Ich habe wirklich sehr viel Talent. Sie müssen schreiben, daß ich sehr viel Talent habe.“
Der kleine Statist mit dem großen Ehrgeiz weicht nicht mehr von meiner Seite. Schließlich werden wir beide — über Auftrag des Inspizienten — auf den Korridor geleitet und die Türe wird hinter uns geschlossen. Wir müssen durch die Katakomben, die von schwachen, mit Drahtnetzen umspannten Glühbirnen beleuchtet sind, wieder in die Garderobe hinab.
Während des dritten Aufzuges, kurz nach der Szene mit den Pappenheimern, die von Chorherren dargestellt wird, läutet in unserer Garderobe die elektrische Glocke: Man bedarf unser. Herr Kristoff wirft noch einen musternden Blick auf unsere Uniformen, bessert hier und dort an unserer Adjustierung und jagt uns dann hinauf in den Seitenraum der Bühne. Von der Szene tönt uns das Wortgefecht zwischen Max Piccolomini und Max Devrient entgegen. Wir stehen rechts von der Bühne und stellen die Truppen dar, die ungeduldig die Freigabe des jungen Piccolomini verlangen, den sie von Wallenstein gefangen glauben. Der Inspizient, Herr Körner steht auf einem Sessel und hebt von Zeit zu Zeit die Hand. Das ist ein Signal für uns: Jetzt ist’s Zeit zu lärmen!
Der einundzwanzigste Auftritt geht zu Ende, Wallenstein hat seine Absicht wahr gemacht:
„Ich zeige mich
Vom Altan dem Rebellenheer, und schnell
Bezähmt, gebt acht, kehrt der empörte Sinn
Ins alte Bette des Gehorsams wieder.“
Wallenstein kommt zu uns heraus, wischt sich (dem Publikum ist er nicht sichtbar) den Schweiß von der geschminkten Stirn, schneuzt sich gleichmütig und schenkt uns, dem Rebellenheere, keine Beachtung. Ist es dann ein Wunder, daß auch wir ihn mißachten und auf die freundliche Aufforderung des Herrn Inspizienten „Vivat Ferdinandus!“ schreien?! Das heißt: Alle schreien diese beiden Worte nicht. Vor mir z. B. steht ein Tscheche, der in den allgemeinen Lärm nur mit einer freien tschechischen Übersetzung des Wortes „Schmarren“ einstimmt.
„Um zwei Sechser werde ich doch nicht ganze Monologe aufsagen,“ bemerkt er zu seinem Nachbar.
Nach und nach stürmen alle Statistengruppen in den Saal, der sich — streng laut Regiebemerkung Schillers — unter Kriegsmusik allmählich mit Bewaffneten zu füllen hat. Schließlich stehen wir alle im Hintergrund der Szene. Einzelne von uns betrachten die Dekoration, andere mustern die Thekla, andere starren forschend in den Zuschauerraum, der in gähnender Dunkelheit vor uns daliegt und aus dem sich tausend unsichtbare Augen auf uns heften. Wieder andere von uns suchen ihren Blick abzuwenden, unerkannt zu bleiben. Jeder hat andere Wünsche. Max Piccolomini aber schreit uns an:
„Was wollt ihr? Kommt ihr, mich von hier hinweg
Zu reißen? — O treibt mich nicht zur Verzweiflung
Tut’s nicht! Ihr könntet es bereun.“
Wir würdigen den Mann gar keiner Antwort. Er aber glaubt, daß keine Antwort auch eine Antwort sei, und brüllt uns zu:
„Ihr habt gewählt zum eigenen Verderben,
Wer mit mir geht, der sei bereit zu sterben.“
Dann rennt er ab, wir ihm im wilden Tumulte nach, nicht zu sterben, sondern in unsere Garderoben. Wir haben ausgespielt und entledigen uns unserer Rüstungen, in denen wir von halb 7 bis 10 Uhr abends bös transpiriert haben und kleiden uns an. Einzeln verlassen wir die Garderobe. Der „Meisterdetektiv“ mißt jeden von uns mit forschendem Blick, daß es den Gemusterten eiskalt überläuft.
Der kleine Statist schärft mir noch beim Abschied ein: