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Aus Prager Gassen und Nächten:Die Irren
日期:2024-01-29 10:58  点击:217
Sie gehen umher und laufen, sie drängen sich auf den Gängen, sie stehen in Gruppen beisammen oder schauen aus den Fenstern in den beschneiten Garten hinunter, den fünf Gassen der Oberen Neustadt begrenzen. Der eine raucht eine Zigarette, ein anderer hält seine Pfeife, ein dritter die Zigarre im Mund. Der eine trägt die graue Anstaltskleidung, der zweite einen schwarzen Gehrock, der dritte einen tadellosen grauen Straßenanzug. Hier springt mit wirrem Lallen, gesenktem Kopf, roten Augen und schlenkernden Armen ein Patient vorüber, dort im offenen Zimmer spielen zwei ruhige Männer eine Partie Schach — brillante Spieler, sagt der Arzt.
 
Ein Herr reicht dem Arzt den Aufnahmsbogen eines neuen Patienten. Das Nationale und die Anamnese sind aus dem tschechischen Rapport eines Polizeiarztes ins Deutsche übertragen und fein säuberlich mit Schreibmaschine geschrieben. Der Arzt vergleicht den Akt mit dem Polizeirapport, der Überreicher steht wartend. „Auch ein Kranker,“ sagt der Arzt französisch zu mir.
 
Ich sehe mir den Mann an. Er ist behäbig, sehr sorgfältig gekleidet, und hat einen wohlgepflegten grauen Schnurrbart. Er geht weg, und der Arzt sagt zu mir: „Der Mann hat vor einigen Jahren einen Prager Stadtverordneten aus Rache auf der Straße erschossen. Das Verfahren wurde eingestellt, da sich herausstellte, daß der Mörder unzurechnungsfähig war. Jetzt versieht er bei uns Kanzlistendienste. Die Übersetzung des tschechischen Polizeirapports und die Übertragung auf der Schreibmaschine hat er selbst besorgt.“ Ich erinnere mich genau an den Mord, der in Prag beispielloses Aufsehen hervorgerufen hat. Der Mann, der geglaubt hatte, von dem Stadtverordneten verfolgt zu sein, hatte zuerst in den Zeitungen gegen ihn geschrieben, und schließlich war sein Haß so furchtbar ins Krankhafte gewachsen, daß er dem Feinde auflauerte und ihn erschoß. Und jetzt sieht der Mann so ruhig, äußerlich und innerlich so ausgeglichen aus.
 
Ein zweiter Patient: Doctor juris. Auch sein Name ist mir geläufig. Er hat vor einigen Jahren an dem studentischen Leben Prags regen Anteil genommen. Er spricht mit meinem Begleiter.
 
„Nun, Herr Doktor, sind Sie schon zu meiner Überzeugung gelangt, daß Ihre Diagnose falsch ist?“
 
Es entspinnt sich ein Gespräch, in dessen Verlauf sich der Jurist als Fachmann auf psychiatrischem Gebiet entpuppt. Er ist hierher gebracht worden, weil er in Intervallen von etwa zwei Jahren gefährliche Anfälle bekommt; er ist überzeugt, daß er mit Unrecht in der Irrenanstalt zurückgehalten wird:
 
„Ich tröste mich aber. Auch Christus würde heutzutage nicht mehr gekreuzigt werden; seine Widersacher würden ihn ins Irrenhaus sperren.“
 
Ein dritter Patient: hochelegant, brauner Straßenanzug von englischem Schnitt, linierter Scheitel. Über dem rechten Auge trägt er eine schwarze Binde. Er hat in Teplitz eine Kellnerin erschossen und sich selbst durch einen Revolverschuß ins Auge verletzt. Sein Vater ist Rektor in einer Stadt in Deutschland; er will von dem entarteten Sohn nichts wissen. Der junge Mann ist der Freund des internierten Doktors. Die beiden Geisteskranken sind Meister im Schachspiel, diesem Spiel, das die größte Anspannung geistiger Kräfte verlangt.
 
Von einem anderen Patienten, einem Dégénéré supérieur, der früher Photograph war, und mit Josef Kainz in regem Verkehr stand, liegt mir eine Reihe herrlicher Gedichte vor, die er einem der klinischen Ärzte eingehändigt hat und die seine Stimmung in der Irrenanstalt schildern. Aus einem Sonettenzyklus „Die Irren“ sei folgendes Gedicht hier veröffentlicht:
 
„Dann sterben sie in weißgetünchten Zellen
 
Noch einmal, da sie lange schon gestorben,
 
So wie die grüne Frucht, die früh verdorben
 
Sich noch vom Baume löst, um zu zerschellen.
 
Vielleicht ist ihnen mancher Wunsch geworden,
 
Eh’ sie die fahlen Augen endlich schließen:
 
Ein süßes, schwelgerisches Traumgenießen
 
Und Kampfgetön, wie ferner Wind von Norden.
 
Sie schwinden dann, wie Glocken, die zerschlagen,
 
Weil die metallne Mischung einst mißlungen,
 
Da ihre Hüter in der Schenke lagen.
 
In Harmonien und in Dämmerungen
 
Von neuem Blühen und von neuen Tagen
 
Ruht still ihr Staub, zu bess’rem Sein gezwungen.“
 
Der Dichter, der dieses singt, ist schwer krank. Er hat seine Mutter töten wollen, weil er ihre Not nicht mehr mit ansehen konnte. Man denkt wieder an Lombroso: Genio e follia.
 
Er ist nicht das einzige künstlerische Genie in der Irrenanstalt. Drüben in der Frauenabteilung sitzt ein hübsches, braunes Mädel beim Fenster, und zeichnet mit Bleistift das deutsche naturwissenschaftliche Institut. Ich beginne mit ihr ein Gespräch. Aber die Kleine ist schnippisch; es ist eine äußerliche Keckheit, die innere Zagheit und Schwäche verbergen will. Das Mädchen will mir seine Zeichnung nicht zeigen.
 
„Sie verstehen ja doch nichts davon,“ lacht es.
 
Erst als der Doktor um das Bild ersucht, zeigt die Kranke es her. Es ist mit natürlichem Geschick gemalt, viel Strichtechnik ist darin zu sehen, und der gute Blick der Zeichnerin ist unverkennbar. Das Mädchen befaßt sich viel mit Kunstgeschichte: früher war Manes, jetzt ist Aleš ihr Lieblingsmaler. Die junge Malerin ist früher Köchin gewesen; der Tadel über eine mißlungene Speise versetzte sie in Paroxysmus, sie entlief ihrer Herrschaft, wollte sich ins Wasser stürzen, flüchtete dann in die Wälder der Umgebung Prags und lief dort einige Tage umher, ohne zu essen oder zu trinken. Entkräftet lag sie im Wald, als man sie fand. Jetzt sieht sie gut aus, und malt. — Wir treten wieder auf den Gang hinaus.
 
„Herr X.,“ ruft der Arzt einen Mann an.
 
Der kommt herbei. „Wie geht’s?,“ fragt ihn der Doktor.
 
„Danke, jetzt hab’ ich ja wieder ein neues Ministerium zusammengestellt. Sie setzen jetzt in den Zeitungen einen römischen Dreier zu meinem Namen. Na, wir werden ja sehen, wie’s gehen wird.“
 
Der Mann, der herbeigekommen war, als der Arzt seinen wirklichen Namen rief, glaubt Bienerth zu sein. Die Politik ist dem Armen zu Kopf gestiegen.
 
Wir treten in ein Krankenzimmer. Ein alter Patient kommt auf uns zu, und bittet ehrerbietig, ein Theaterstück aufsagen zu dürfen. Und nun spricht er den Puppenspieler-Faust, die Stimme variierend, wenn neue Personen auftreten. Er erzählt von den Taten des Doktor Faust, von seiner Geistesbeschwörung und der Verschreibung seiner Seele an den Teufel, und von den Wunderdingen, die er am Hofe des Kaisers vollbracht habe. Er erzählt — bis wir ihm Einhalt gebieten. Ob er noch etwas tanzen dürfe, fragt er bescheiden. So tanzt er denn, und hopst im Zimmer herum. Die anderen Patienten betrachten seine Sprünge kaum, so wie sie früher nicht auf seine Rezitation geachtet haben. Sie kennen diese letzten Reste der Kunst, die der Alte — ein ehemaliger Marionettenspieler und Schaubudenbesitzer — aus dem einstigen Beruf in seine Krankheitszeit hinübergerettet hat.
 
Wir müssen noch eine andere Vorstellung über uns ergehen lassen. Ein Irrsinniger, der nicht sprechen, sondern nur unverständliche Laute zu stammeln vermag, hängt einen Hampelmann an einen Schrank, umhüllt sich und einen anderen stummen Irren mit einem Laken, schlägt mit einem Löffel dreimal an ein Wasserglas, und beginnt nun vor dem Hampelmann verzückte Tänze und Körperschwingen zu exekutieren. Er singt dabei in eintönigem Rhythmus irgendwelche Worte. Sein Genosse, der überhaupt sein willenloses Werkzeug ist, hat nur die Aufgabe, die Bewegungen zu kopieren, und tut es mit einem dumpf-begeisterten Lachen. Was aber in dem Innern des Protagonisten vorgeht, des Irren, dem die Anbetung des Hampelmannes etwas Primäres ist — wer weiß das zu sagen.
 
Noch trübere Bilder: Ein Kranker steht gebückt in seinem Bett und starrt aus dem Fenster hinaus ins Leere. Eine Woche steht er schon so da, und selbst wenn man ihm Speise einflößt, schaut er aus dem Fenster hinaus in jene Richtung, in der sein Sehnsuchtsland liegt.
 
Ein ganz kleiner Junge, der sehr, sehr schwer krank ist, treibt in einem Krankenzimmer seine Possen. Er ist der Liebling seiner alten Zimmerkollegen, und sie vollführen alle seine Wünsche. Der Kleine ist ein Adeliger, der Enkel eines Hofrates, der früher in Österreich eine nicht unbeträchtliche Rolle gespielt hat. Die Töchter des Hofrates sind tief gesunken, der kleine Enkel kam zunächst ins Waisenhaus und dann hierher.
 
Dort im Bette in der Ecke verstummt plötzlich das Röcheln, das bislang hörbar war. Der Arzt geht hin und leuchtet dem wachsbleichen Mann unter das Augenlid. Die Irren sammeln sich rings um das Bett und stieren auf den Alten. „Exitus,“ konstatiert der Arzt leise. 

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