Mit ihrem Stabe berührte sie außer dem König und der Königin alles, was in dem Schlosse war, die Haushälterinnen, die Ehrendamen, die Kammerfrauen, die Edelleute, die Offiziere, die Haushofmeister, die Köche und Küchenjungen, die Laufburschen, die Wächter und Türsteher, die Pagen und Diener; sie berührte auch alle Pferde, die in den Ställen standen und die Stallknechte, die großen Hofhunde und den kleinen Puff, das Schoßhündchen der Prinzessin, das neben ihr auf dem Bette lag. Und wie sie alle berührte, so schliefen alle ein, um nicht eher aufzuwachen als ihre Herrin, und um jederzeit bereit zu sein, ihr zu dienen, wenn sie ihrer bedürfe. Auch die Bratspieße, die voll Rebhühner und Fasanen am Feuer steckten, schliefen ein, und sogar das Feuer selbst. Alles das geschah in einem Augenblick, denn die Feen brauchen nicht lange zu ihrer Arbeit.
Der König und die Königin küßten noch einmal ihr geliebtes Kind, ohne es dadurch aufzuwecken, verließen dann das Schloß und machten bekannt, daß es verboten sei, sich dem Schlosse zu nähern. Doch dies Verbot war nicht notwendig; denn es wuchsen in einer Viertelstunde um den ganzen Park herum eine solche Menge von großen und kleinen Bäumen, von Brombeerhecken und innig verschlungenem Dornengestrüpp, daß weder Tier noch Mensch hindurch gekonnt hätte; nicht einmal mehr sehen konnte man das Schloß außer den Spitzen der Türme, selbst nicht aus weiter Ferne. Es bestand kein Zweifel, daß auch dies eine Tat der Fee war, damit die Prinzessin während ihres Schlafes nichts von Neugierigen zu befürchten habe. —
Als die hundert Jahre um waren, kam der Sohn des Königs, der damals regierte, und der einer andern Familie als die schlafende Prinzessin entstammte, auf der Jagd in diese Gegend und fragte, was für Türme es seien, die er über dem dichten Walde erblicke. Jeder antwortete ihm so, wie er gehört hatte: die einen sagten, es sei ein altes Schloß, in dem die Geister spukten, die andern, daß alle Zauberer der Gegend dorthin zum Sabbath kämen. Die Meinung der meisten aber war, es wohne dort ein Menschenfresser und alle Kinder brächte er dorthin, die er erwischen könne, um sie in Ruhe und sicher vor Verfolgern zu verzehren, da nur er allein die Macht habe, sich einen Durchgang durch den Wald zu bahnen.
Der Prinz wußte nicht, wem er Glauben schenken sollte, als ein alter Bauer das Wort ergriff und sprach:
»Mein Prinz, es ist mehr als fünfzig Jahre her, daß ich meinen Vater erzählen hörte, es gäbe in dem Schlosse eine Prinzessin, schöner, als man jemals eine sah. Hundert Jahre müsse sie schlafen, dann würde sie erweckt von einem Prinzen, für den sie bestimmt sei.«
Feuer und Flamme war der junge Prinz bei diesen Worten. Ohne zu schwanken glaubte er, diesem schönen Abenteuer ein Ende bereiten zu müssen, und von Liebe und Ehrgeiz getrieben, beschloß er, auf der Stelle zu sehen, was daran Wahres sei. Kaum näherte er sich dem Walde, da gingen alle die großen Bäume, die Brombeersträucher und Dornenhecken von selbst auseinander und ließen ihn hindurch. Er näherte sich dem Schloß, das er am Ende einer großen Allee erblickte, und ging hinein. Er war ein wenig erstaunt, als er sah, daß niemand von seinen Leuten ihm hatte folgen können, da der Wald sich wieder geschlossen hatte, nachdem er hindurchgegangen. Aber er ließ sich nicht abhalten weiterzugehen, denn ein junger Prinz, der liebt, ist immer tapfer. Er trat in einen großen Vorhof, wo alles, was er zunächst erblickte, dazu angetan war, ihn zu erschrecken. Es war eine furchterregende Stille; ein Bild des Todes bot sich ihm. Ausgestreckt lagen die Leiber von Menschen und Tieren, die gestorben schienen. Doch erkannte er sehr bald an der sinnigen Nase und dem roten Gesicht der Türsteher, daß sie nur schliefen, und ihre Becher, in denen sie noch ein paar Tropfen Wein hatten, zeigten ihm deutlich genug, daß sie beim Trinken eingeschlafen waren. Er ging weiter durch einen großen, marmorgepflasterten Hof, stieg eine Treppe hinauf und trat in eine Wachtstube, wo die Soldaten mit Karabiner auf Schulter in Reih und Glied standen und um die Wette schnarchten. Er durcheilte mehrere Zimmer voller Edelleute und Damen, die alle schliefen, teils stehend, teils sitzend. Dann trat er in ein goldenes Gemach und sah auf einem Bette, dessen Vorhänge nach allen Seiten geöffnet waren, das schönste Bild, das er jemals gesehen: eine Prinzessin von etwa fünfzehn oder sechzehn Jahren, deren herrliche Schönheit in göttlichem Glanze strahlte.