Fünfzehn oder sechzehn Jahre später waren der König und die Königin einmal auf eines ihrer Lustschlösser hinaus gefahren. Da geschah es, daß die junge Prinzessin, als sie durch den Palast lief und von Zimmer zu Zimmer sprang, hinauf in ein kleines Turmstübchen kam, in dem eine alte Frau ganz allein saß und ihren Rocken spann. Diese gute Frau hatte von dem Verbote des Königs, mit Spindeln zu spinnen, noch nie etwas gehört.
»Was macht Ihr da, liebe Frau?« sagte die Prinzessin.
»Ich spinne, mein gutes Kind«, antwortete die Alte, die aber die Prinzessin nicht kannte.
»Wie hübsch das ist,« sprach die Prinzessin, »wie macht Ihr das? Gebt es mir, ich möchte sehen, ob ich es auch so gut kann.«
Kaum hatte sie die Spindel ergriffen, da stach sie sich in ihrer lebhaften Unbesonnenheit gerade so, wie es nach dem Spruch der Fee geschehen mußte, in die Hand und fiel ohnmächtig zu Boden.
Die gute Alte hielt sie in ihren Armen und rief um Hilfe: von allen Seiten kam man herbei, man spritzte der Prinzessin Wasser ins Gesicht, schnürte ihr Mieder auf, schlug ihr die Hände, rieb ihr die Schläfen mit ungarischem Königin-Wasser: aber nichts rief sie zum Leben zurück. Der König, der auf den Lärm hin herbeigeeilt war, erinnerte sich alsbald an die Weissagungen der Feen und in dem Gedanken, daß es so kommen mußte, wie die Feen es einmal gesagt hatten, ließ er die Prinzessin in das schönste Gemach des Palastes bringen, in ein Bett, das mit Gold und Silber bestickt war.
Man hätte sie für ein Englein halten können, so schön war sie; die Ohnmacht hatte ihr die Farben des Lebens nicht genommen, ihre Wangen waren wie Rosen so rot und ihre Lippen wie Korallen; nur ihre Augen waren geschlossen, aber man hörte sie leise atmen und daran sah man, daß sie nicht gestorben war. Der König befahl, man solle sie in Ruhe schlafen lassen, bis die Stunde ihrer Erweckung gekommen sei.
Als der Prinzessin dieses Unglück zustieß, war die gute Fee, die ihr das Leben gerettet und sie nur zu einem hundert Jahre langen Schlaf verurteilt hatte, gerade in dem Reiche des Königs Mataquin, zwölftausend Meilen weit weg; aber in einem Augenblicke wurde sie durch einen kleinen Zwerg benachrichtigt, der Siebenmeilenstiefel hatte. Das waren Stiefel, in denen man mit einem einzigen Schritt sieben Meilen zurücklegte. Sofort reiste die Fee ab; und kaum war eine Stunde vergangen, da sah man sie in einem von Drachen gezogenen feurigen Wagen daherkommen.
Der König ging ihr entgegen, um ihr beim Aussteigen die Hand zu reichen. Sie billigte alles, was er angeordnet hatte. Doch in ihrer weisen Voraussicht dachte sie daran, wie sehr sich die Prinzessin ängstigen müsse, wenn sie ganz allein in dem alten Schlosse aufwache, und sie tat dieses: