„Das fehlte gerade noch,“ sagte die Königin. „Was sollte eine Sklavin wie du mit einem Liebsten?“
„Sehr richtig, Ew. Majestät. Sie müssen wissen, daß die Mutter der Blattlaus im letzten Herbst einmal eine Art Mann gehabt hat. Wie das eigentlich mit ihm zusammenhing, weiß ich nicht. Aber verheiratet war sie also, und Eier legte sie auch, und dann starb sie. Damit nun den Ameisen keine Ungelegenheiten daraus erwachsen, kriegt die Blattlaus, die aus dem Ei gekommen ist, den ganzen Sommer über Junge, so daß stets genug von dem süßen Saft vorhanden ist für Ew. Majestät und für diejenigen Untertanen, denen Ew. Majestät einen Tropfen vergönnen. Zum Herbst, wenn wir keine Verwendung mehr für den Saft haben, dann heiraten die Kindeskinder der Blattlaus, soviel ich weiß, legen Eier und sterben, nachdem sie auf diese Weise für die Ameisen im folgenden Jahre gesorgt haben. Man kann nicht leugnen, es geschieht viel für die Ameisen.“
„Das ist wahr,“ sagte die Königin. „Gib mir nur gut auf meine Blattläuse acht! Jetzt geh’ ich hinein und leg’ noch mehr Eier. Das bin ich meinem Reiche schuldig.“
Damit stolzierte sie in den Hügel hinein. Die[S. 300] alte Ameise öffnete ihr ehrerbietig die Tür und ging dann an ihre Arbeit.
„Hast du je so etwas gehört?“ schrie der Buchfink.
„Nie in meinem Leben!“ sagte die Buche.
„Es ist unglaublich!“ erklärte der Waldmeister.
„Es ist gelogen,“ sagte die Tanne.
„Laßt uns hören, was die Blattlaus sagt,“ schlug der Buchfink vor. „Jetzt, wo die alte Ameise weg ist, kann man vielleicht die Wahrheit von ihr erfahren. — He, du... Blattlaus... was ist das für eine Geschichte mit den Ameisen und dir? Bist du die Kuh der Ameisen? Bist du allein ihretwegen auf der Welt?“
„Laß mich saugen,“ erwiderte die Blattlaus.
Da bettelten alle, die Blattlaus möchte ihnen doch den wirklichen Zusammenhang der Sache erzählen. Sie sagten ihr, sie müsse ihnen behilflich sein, denn die Ameisen müßten unbedingt wegen ihrer Eingebildetheit eine Lektion erhalten. Es gehe ganz und gar nicht an, daß solch kleines Gewürm sich auf Kosten aller andern Geschöpfe wichtig mache.
Aber soviel sie auch baten, flehten und drohten, es half alles nichts.
„Laßt mich saugen,“ war alles, was die Blattlaus sagte.
Dann wurde es Abend. Der Buchfink hatte seine letzte Weise für heute gesungen. Der Wind hatte sich gelegt, die Sonne war untergegangen, der Waldmeister stand und dachte darüber nach, daß er bald sterben müsse. Die Ameisen hatten die[S. 301] hundert Türchen des Hügels geschlossen, und es war ganz still im Walde.
Und selbst die Blattlaus hatte aufgehört zu saugen, weil sie nicht mehr konnte.
Und wie sie so dasaß, kam ein klarer Tropfen aus ihr hervor.
„Der ist für die Ameisen,“ sagte der Buchfink.
„Was kümmern mich die Ameisen?“ antwortete die Blattlaus.
„Was sagst du?“
„Ich sage: Was kümmern mich die Ameisen?“
„Und der Tropfen, den du auf das Blatt gelegt hast?... Da kommt noch einer...“
„Ich tu’, was kein andrer für mich tun kann,“ sagte die Blattlaus.
Einen Augenblick war es still im Walde.
Dann schrie der Buchfink es den andern zu, soweit er es vor Lachen konnte.
Und die Buche lachte, und der Waldmeister lachte, daß er daran starb... der eine erzählte es dem andern, und bald wußte es der ganze Wald, und er lachte und lachte und konnte nicht aufhören.