„Ja — ich könnte das gar nicht, wenn ich auch wollte,“ erwiderte die Lichtnelke. „Ich habe gar keine Staubgefäße in meiner Blüte, nur Eier.“
„Herrgott, bist du ein Invalide?“ rief der Buchfink erschrocken.
„Nein, ganz und gar nicht,“ erwiderte die Blüte. „Aber wir Lichtnelken sind nun einmal so eingerichtet. Meiner Schwester drüben an der Hecke geht es ebenso. Aber auf der andern Seite des Weges, da stehen meine Brüder... siehst du das Weiße da drüben leuchten? Das sind sie. Die haben bloß Staubgefäße[S. 199] und keine Eier. Nun verstehst du wohl, daß wir genötigt sind, uns der Schmetterlinge zu bedienen.“
„Ja, aber die Rose und der Löwenzahn? Und die Butterblume und die Glockenblume? Ist es bei ihnen denn ebenso?“
„Nein,“ erwiderte die Lichtnelke. „Sie haben gleichzeitig Eier und Staub in ihren Blüten; sie könnten sich also allein behelfen, wenn sie wollten. Aber sie wollen nicht. Denn fremder Staub ergibt die größten, besten Samen, weißt du.“
„Wie merkwürdig das alles ist,“ sagte der Buchfink. „Da geht’s euch ja im Grunde ebenso wie uns Tieren. Ihr kämpft miteinander, um durchzukommen, kämpft für eure Nachkommen und so weiter.“
Die Lichtnelke nickte auf ihrem Stengel und sang ihr Liedchen, denn es kam gerade ein großer, grauer Schmetterling vorübergeflogen. Aber er flog weiter, und da sagte die Blume:
„O ja, so ist es. Aber ihr schreit und schlagt einander tot vom Morgen bis zum Abend. Wir stehen still, wo wir stehen, leuchten und duften und besorgen trotzdem unsern Kram. Also ein Unterschied ist doch vorhanden.“
Der Buchfink saß ein Weilchen schweigend da und dachte nach. Dann entdeckte er, daß es spät geworden war, und beeilte sich, sein Nest im Walde aufzusuchen.
Der Abend verstrich, und es wurde immer dunkler. Rings auf den Gehöften wurden die Lichter ausgelöscht, und auf den Wegen war niemand mehr zu sehen. Die Nachtviole duftete versteckt im Grase, der Roggen flüsterte mit dem Nachtwinde, und die weißen Blumenblätter der Lichtnelke leuchteten.
„Du... Roggen!“ rief die Lichtnelke. „Du bist so lang und reichst so hoch hinauf... kannst du nicht sehen, ob ein Dämmerungsfalter im Anmarsch ist?“
„Guck’ nicht aus nach dem Zeug... kenne nichts davon... kümmer’ mich nicht drum,“ erwiderte der Roggen.