Die Grabwespe flog davon, und die Nachtigall, die auf dem Rande ihres Nestes saß, wollte sie wegschnappen. Aber da wurde sie von einem ihrer Kinder am Bein gezwickt.
„Ach, laß sie fliegen, Mütterchen, dann bist du lieb,“ bat das Junge. „Ich habe das ganze hier mitangehört. Denke dir, das arme Wesen bekommt sein Junges nie zu sehen. Laß sie fliegen, dann dürfen die andern meine nächste Fliege kriegen.“
„Du bist ein gutmütiger kleiner Dummkopf,“ sagte die Nachtigall, „und in zehn Minuten bereust du es. Aber eine sonderbare Geschichte ist es doch.“
Dasselbe meinten die Sträucher rings um den kleinen Hügel herum. Sie beugten sich über den Pfahl und guckten in das Loch hinein, wo die ohnmächtige Marienkäferlarve auf dem Rücken lag. Die Grashalme richteten sich auf und wünschten, noch länger zu sein, damit sie auch etwas zu sehen bekämen. Am allermeisten erstaunt waren sie alle darüber, daß so etwas Merkwürdiges gerade dem alten, morschen Pfahl passieren sollte.
Aber der stand mitten auf dem Hügel und hielt sich aufrecht, so gut er konnte, und war unsäglich stolz.
„Wäre ich eine vernünftige Nachtigall, so zupfte[S. 41] ich die Marienkäferlarve heraus und fräße sie,“ sagte die Nachtigall. „Aber es mag hingehn. Vorläufig ist ja genug Futter im Garten, und sie läuft mir nicht weg. Wollen sehen, was draus wird.“
Der Fliederstrauch nickte, und der Goldregen nickte, und der Rotdorn und der Jasmin auch. Denn sie waren alle derselben Ansicht wie die Nachtigall.
Und nun schleppte die Grabwespe noch eine ohnmächtige Marienkäferlarve herbei und steckte sie in das Loch hinein. Und so fuhr sie fort, den ganzen Nachmittag über, bis das Loch voll war.
„Jetzt flieg’ ich ein bißchen im Sonnenschein umher,“ sagte sie dann zu dem alten Pfahl. „Gleich bin ich wieder da und lege mein Ei, und dann leg’ ich mich selber hin und sterbe.“
Weg war sie, und die Sträucher flüsterten von ihr.
Doch da kam ein über die Maßen elegantes Bürschchen herbeigeflogen und setzte sich auf den alten Pfahl neben das Loch hin. Er hatte vier durchsichtige Flügel, sechs Beine und zwei Fühler, genau so wie die Grabwespe, aber sein ganzer Körper glänzte wie Gold und Silber. Der Pfahl betrachtete ihn vergnügt; er dachte, daß das nun schon der zweite vornehme Besuch an einem und demselben Tage sei, und meinte, nun seien bessere Zeiten angebrochen.
„Sie sind wohl im Sonntagsanzug?“ fragte er freundlich. „Womit kann ich Ihnen dienen?“
„Ich sehe mich nach einer Wohnung um,“ erwiderte der Fremde. „Du hast da ein nettes kleines Loch.“