„Das alte Gespenst!“ rief der Fliederstrauch, dessen unterste Zweige sämtlich verdorrt waren, weil die Sonne fehlte. „Wenn er nicht so viel Takt gehabt hat, sich hinzulegen und zu sterben, dann sollte er seinen Leichnam wenigstens nicht in der Sonne zur Schau stellen. Wozu ist er zu gebrauchen? Was tut er? Treibt er Blätter und Blüten?“
Der Goldregen nickte mit allen seinen gelben Blüten, denn er war ganz derselben Ansicht wie der Fliederstrauch. Und die Nachtigall, die im Rotdorn wohnte, setzte sich nie auf den alten Pfahl. Sie hüpfte in den Sträuchern umher und flüsterte ihnen allerlei Schönes ins Ohr. Sie erzählte dem Goldregen, wie fein und anmutig seine Blüten herabhingen. Sie sang von dem Duft des Flieders und des Jasmins und sagte zum Rotdorn, nirgends in der Welt lasse es sich so warm und herrlich wohnen wie in seinen Zweigen. Für den alten Pfahl aber hatte die Nachtigall nie ein freundliches Wort übrig, hielt ihn vielmehr immer zum besten.
„Na, du alter, steifer Kerl!“ schrie sie. „Willst du nicht ein bißchen mit deinen Blättern fächeln — was? Oder sind deine Knospen vielleicht noch nicht aufgesprungen? Oder feierst du schon Herbst?“
Da lachten die Sträucher, daß alle ihre Blätter sich bewegten. Denn sie fanden die Nachtigall ungemein witzig. Und sie war auch der einzige Vogel, der hier im Winkel sein Nest baute.
Aber der alte Pfahl machte sich nicht viel aus all dem Spektakel. Er hörte jetzt auch nicht mehr besonders gut, so daß ihm vielleicht manches ent[S. 36]ging. Außerdem war er ja in dem Alter, wo man sich um das Gerede der Leute nicht bekümmert, wenn man nur seine behagliche Ruhe hat. Wenn sie alle durcheinander schrien, so daß man in dem Winkel kein Wort verstehen konnte, dann machte er ja allerdings eine bescheidene kleine Bemerkung zu seiner Entschuldigung. Aber gewöhnlich hörte das niemand außer dem Moos, das auf dem alten Pfahl wuchs.
„Herr Gott!“ murmelte er dann. „Laßt mich doch in Frieden hier stehen, bis ich falle. Ich tue ja keiner Katze was zuleide.“
Und kurz darauf sagte er, aber noch leiser:
„Unsereins ist ja auch einmal jung gewesen. Ein richtiger, schöner Baum war ich, jawohl! Damals hab’ ich Blätter und Blüten gehabt, und zwei Buchfinkenfamilien haben in meinem Wipfel gewohnt. Aber dann sollte ein Weg dahin, wo ich stand. Ich wurde gefällt, zugehauen und angestrichen — rot und weiß — und um die Beine herum geteert. Acht lange Jahre stand ich so im Zaune da. Das strengt an, jawohl!“
Eines Morgens im Sommer hing der alte Pfahl seinen Gedanken nach.
Es hatte zwei Tage lang geregnet, und am Fuße des Pfahls hatte sich eine kleine Pfütze gebildet. Große, schwere Tropfen fielen von den Sträuchern auf die welken Blätter hinab. Jeder von den langen, dünnen Grashalmen schleppte einen Tropfen und zerbrach fast vor Anstrengung. Aber nun war in der Frühe die Sonne hinter den Wolken hervorgekommen und schien mild und warm gerade auf den Pfahl.