„Ich wollte gerade hinauf, um nach dir zu sehen,“ sagte die alte Dame. „Nein, was für fünf reizende Kinderchen du hast!“
„Ja — nicht wahr?“ sagte die Mutter und vergaß über diesem Lob ganz ihr Leid.
„Laß mich eins an mich nehmen, damit ich mit ihm herumspazieren kann,“ bat die Tante.
„Niemals!“ sagte die Mutter streng. „Ich weiß wohl, was du für ein Herumtreiber bist, liebe Tante. Meine Kinder gehören mir und keinem anderen, und sie bleiben bei mir.“
In diesem Augenblick fiel ein Schuß von oben her.
Es war ein dummer Schuß, den ein dummer[S. 30] Junge aufs Geratewohl abgefeuert hatte, weil er mit seines Vaters Flinte großtun wollte. Aber die Flinte war geladen, die Schrotkörner schlugen rings umher ein, und die Eidergansmutter fiel mit einem Schrei zu Boden.
„Meine Jungen! Meine Jungen!“ stöhnte sie.
„Denen geht es gut, allen fünfen,“ sagte die Tante. „Sei nur unbesorgt. Aber was ist dir?“
„Ich sterbe,“ ächzte die Mutter. „Ich bin ganz voller Schrotkörner und spüre deutlich, daß ich sterben muß. Ach, meine Kinder, meine Kinder!“
„Ihretwegen brauchst du dir keine Sorgen zu machen,“ sagte die Tante. „Ich werde ihnen eine zweite Mutter sein und so gut für sie sorgen, als ob es meine eigenen Kinder wären.“
„Ach, Tante,“ rief die junge Mutter mit schwacher Stimme. „Du bist so furchtbar leichtsinnig. Ich habe ja selbst da oben gesessen und gesehen, wie du dich zwischen den Mannsleuten und den jungen Mädchen unten umhergetummelt und mit ihnen gescherzt hast. Wie könnte eine Mutter dir ihre Kinder anvertrauen?“
„Du irrst dich,“ sagte die Tante. „Wenn man Kinder hat, ist das anders. Leg’ du dich nur ganz ruhig hin und stirb.“
Und das tat die Eidergans auch.
Sie fiel um und konnte gerade noch einmal einen Blick auf ihre Jungen werfen. Aber die Tante wartete nicht einmal, bis sie ganz tot war. Sie vergaß alles, nur nicht, daß sie plötzlich fünf prächtige Kinderchen bekommen hatte, und machte sich auf der Stelle mit ihnen auf die Wanderung an den Strand. Sie wußte den kürzesten Weg, denn sie war ihn ja[S. 31] schon siebenmal mit ihren Jungen gegangen. Sie erleichterte den Kleinen den Weg und streichelte sie mit dem Schnabel und lobte und schalt sie, je nachdem sie es verdienten.
Als die Mutter ihre Augen schloß, waren ihre Kinder schon unten am Strande.
Rasch schwammen sie hinaus und begannen sofort zu tauchen, so daß es eine Lust war, es anzusehen. Die Tante bewachte sie und war vor Stolz ganz aus dem Häuschen. Ein alter Kavalier kam zu ihr hin und wollte sie zu einer Tour aufs Meer auffordern; aber sie versetzte ihm einen ordentlichen Hieb mit dem Schnabel.
„Sieht er nicht, daß ich Kinder habe, alter Flegel!“ rief sie. „Fort mit ihm, oder ich will ihn lehren.“
Und sie blieb bei den Kindern, bis sie sich selbst helfen konnten. Winter auf Winter reiste sie mit ihnen nach dem Süden und hörte mit an, wie die Männer um sie freiten und ihnen alles mögliche vor[S. 32]schwatzten, genau so, wie ihr Vater es bei ihrer Mutter getan hatte. Und dann wies sie ihnen gute Brutgelegenheit, machte Hochzeitsvisite und genoß auf dem ganzen Felsen Ehre und Ansehen, bis eines Tages ein Seeadler sie ergriff und auf der Stelle verschlang.