In alten Tagen wohnte einst auf Blaahvam am Blaafjeld eine Riesin mit Namen Kraaka; sie wohnte in einer Höhle, von der heute noch Spuren vorhanden sind, und die so hoch oben zwischen den Felsen bei Blaahvam liegt, daß es für Menschen unmöglich ist, hinaufzukommen. Kraaka tat sehr viel Böses; häufig überfiel sie das Vieh der Mygsöer, und sie schädigte diese dadurch, daß sie ihre Schafe und ihre Leute tötete.
Kraaka war sehr mannstoll und liebte es nicht, in der Einsamkeit zu leben; und so geschah es nicht selten, daß sie sich Männer unten aus den bewohnten Gegenden holte und sie bei sich behielt; aber wenige hielten es bei ihr aus; sie liefen entweder davon oder nahmen sich das Leben.
Einmal hatte Kraaka einen Schafhirten aus Baldershjem, mit Namen Jon, ergattert; sie nahm ihn mit in ihre Höhle und wollte ihn nun recht pflegen. Er aber fand wenig Geschmack daran und wollte von alledem, was sie ihm auftischte, nichts genießen. Sie versuchte alle erdenklichen Künste, um ihm das vorzusetzen, was am meisten nach seinem Geschmack war, es half aber alles nichts. Endlich ließ der Schafhirt verlauten, daß er seinen Appetit wiedererlangen würde, wenn er eine Mahlzeit von einem zwölfjährigen Meerkalb bekommen könnte. Kraaka erfuhr durch[67] ihre Zauberei, daß ein zwölfjähriges Meerkalb an keinem anderen Ort aufzutreiben sei als auf Siglunäs, und obgleich dieser Ort weit von Blaahvam entfernt lag, wollte sie doch den Versuch machen, das Kalb zu erwischen. Sie zog also fort und ließ den Mann zurück; als sie aber ein kleines Stück Weges zurückgelegt hatte, fiel ihr ein, daß es doch sicherer wäre nachzusehen, ob sie nicht von ihm zum besten gehalten worden wäre und er entsprungen sei, sobald sie ihm den Rücken gekehrt hatte. Sie lief deshalb zurück nach ihrer Höhle, der Hirt aber saß ruhig darin; dann ging sie wieder fort und kam diesmal ein Stück weiter auf dem Wege; da befiel sie wieder dieselbe Angst, daß ihr der Mann untreu geworden sein könnte, und sie rannte daher wieder zurück in ihre Höhle; aber es war genau so wie das erstemal, der Mann saß ganz ruhig da. Nun zog sie im Ernst fort und glaubte, daß sie keine Angst mehr wegen des Hirten zu haben brauchte. Sie ging den geraden Weg nach Siglunäs, indem sie nördlich Hrisö quer über den Oefjord ging, und es wird von ihrer Wanderung weiter nichts gemeldet, als daß es ihr gelang, das Kalb einzufangen, und daß sie denselben Weg zurückzog, den sie gekommen war.
Kaum aber glaubte der Hirt, daß Kraaka glücklich den ganzen Weg hinter sich hätte, als er sich aus der Höhle schlich und davonlief. Kurz nachdem er die Höhle verlassen hatte, kam Kraaka zurück und sah bald, daß er entwichen war. Sie begann ihn also in[68] größter Eile zu verfolgen, und als der Hirt nur noch ein kurzes Stück Weges bis Baldershjem zurückzulegen hatte, hörte er ein starkes Dröhnen hinter sich; da wußte er, was das zu bedeuten hatte, daß es Kraaka wäre, die kam. Als sie ihm so nahe gekommen war, daß er ihre Stimme hören konnte, rief sie: »Hier ist das Meerkalb, Jon; es ist zwölf Jahre alt, ja beinahe dreizehn.« Der Hirt aber beachtete sie weiter nicht, und als er den Hof erreicht hatte, stand der Bauer in seiner Schmiede und arbeitete. Da lief er denn hinein und trat in demselben Augenblick hinter den Bauern, als Kraaka die Tür erreichte. Der Bauer nahm das glühende Eisen aus der Esse und lief Kraaka entgegen und drohte, es ihr in den Leib zu stoßen, wenn sie nicht umkehre, nachdem sie versprochen habe, ihn oder seine Leute nie wieder zu belästigen. Da hatte Kraaka keine andere Wahl als wieder umzukehren, und das tat sie. Nach diesem Tage aber hörte man nie wieder, daß sie den Bauern auf Baldershjem zu nahe trat.
Ein anderes Mal nahm sich Kraaka einen Schafhirten aus Grönnewand und schleppte ihn mit in ihre Höhle. Es kam wie früher, daß auch dieser Hirt nichts von dem genießen wollte, was Kraaka ihm anzubieten hatte, und das ging ihr sehr zu Herzen. Schließlich sagte er, daß er wohl junges Bockfleisch essen würde, damals aber gab es nirgends Böcke, außer auf der Landzunge Hafrafells im Oexefjord, und, obgleich es ein weiter Weg war, um sie von dort nach Hvam[69] zu holen, wollte Kraaka doch versuchen, sich das Bockfleisch zu verschaffen. Ehe sie aber fortzog, nahm sie einen ungeheuer großen Stein und setzte ihn vor die Tür der Höhle; denn diesen Hirten wollte sie keinesfalls verlieren, so wie sie den früheren verloren hatte. Sie ging nun fürbaß, und als sie an den Jökelbach zwischen den Bergen kam, sprang sie zwischen zwei hohen Felsen über ihn, und seitdem heißt diese Stelle heute noch »Der Hexensprung«. Über ihre Wanderung wird weiter nichts erzählt, bis sie nach der Landzunge Hafrafells kam. Da nahm sie sich zwei Böcke, band sie mit den Hörnern zusammen und warf sie über die Schulter. Dann kehrte sie denselben Weg zurück und sprang an derselben Stelle wie das erstemal über den Jökelbach. Als sie aber über den Bach gekommen war, war sie von der Wanderung sehr müde geworden und wollte sich ein bißchen verschnaufen. Sie machte die Böcke los und setzte sie zum Weiden in eine Kluft, die seitdem »Die Bockkluft« heißt. Als sie sich eine Weile ausgeruht hatte, nahm sie die Böcke und setzte ihre Wanderung fort.
Von dem Hirten aber wird erzählt, daß er Tausende von Künsten versuchte, um aus der Höhle hinauszukommen, nirgends aber fand er ein Loch oder eine Spalte, durch die er entschlüpfen konnte. Schließlich fand er ein großes und scharfes Schwert, das Kraaka gehörte. Er nahm das Schwert und durchhieb damit den Stein, mit dem die Tür versperrt war, so daß er schließlich ein so großes Loch gemacht hatte, daß er[70] entschlüpfen konnte. Als er hinausgekommen war, lief er, was das Zeug hielt, seines Weges und eilte den bewohnten Gegenden zu. Und man hat nie etwas anderes gehört, als daß er unversehrt nach Hause gelangte.
Kraaka hatte einmal zu einem großen Weihnachtsgastmahl eingeladen und wollte nun alles aufs beste herrichten. Es fehlte aber etwas, fand sie, wenn sie ihren Gästen nicht Menschenfleisch als Leckerei vorsetzte; am Heiligabend ging sie also fort nach den bewohnten Gegenden; als sie aber an die obersten Höfe in dem Ort Mygsö kam, stand jeder Hof leer, da alle Leute zur Kirche nach Skutustad gegangen waren; denn damals war es Sitte und Brauch, in jeder heiligen Nacht Gottesdienst abzuhalten. Alle Leute waren schon in der Kirche; Kraaka aber näherte sich der Kirchentür und sah einen Mann auf einer Bank in einer Ecke sitzen. Sie streckte den Arm nach ihm aus, um ihn aus der Kirche zu zerren, er aber stieß aus Leibeskräften mit den Füßen nach ihr und schrie um Hilfe. Diese erhielt er augenblicklich, und das Ende vom Liede war, daß sich die ganze Gemeinde gegen Kraaka vereinigte, um den Mann ihren Händen zu entreißen, sie aber ließ nicht los, bis die eine Kirchenmauer gelockert war und sich nach außen bog. Dann wird erzählt, wie Kraaka zornig wurde und wünschte, daß die Kirchenmauer nie mehr feststehen sollte. Dieser böse Wunsch scheint in Erfüllung gegangen zu sein; denn seitdem ist die südliche Kirchenmauer auf Skutustad immer sehr baufällig gewesen.
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Es wird auch erzählt, daß Kraaka wegen dieser und anderer Possen, die die Bewohner in dem obersten Teil des Ortes Mygsö ihr spielten, ihnen versprach, daß sie ihnen dagegen einen bösen Streich spielen würde, an den sie lange denken sollten. Oberhalb des Ortes, wo die Bauern ihre Sommerweideplätze hatten, lag damals ein großer Binnensee. Dorthin begab sich Kraaka eines Tages und sammelte ein großes Bündel Reisig, das sie dann mit Torfstücken und Kies ausfüllte, so daß es eine unbändig große Fuhre wurde. Diese Fuhre zog sie hinter sich her, vom Wasser bis zum Ort Mygsö und quer durch ihn hindurch bis nach dem Laxbach, unweit der Stelle, an der er seinen Auslauf aus dem Mygsee hat. Da, wo sie die Fuhre entlangzog, entstand eine große Vertiefung; in diese leitete dann Kraaka das Wasser mit dem Fluche, daß dieser Bach durch die Vertiefung fließen solle, solange der Ort Mygsö bewohnt würde; und daß er den Leuten die Wiesen und angrenzenden Felder überschwemmen solle; und daß zum Eindämmen des Wassers nur dieselben Dinge verwendet werden dürften, aus denen ihre Fuhre zusammengesetzt wäre, und daß der Bach schließlich den obersten Teil der Ortschaft zerstören solle.